Ungewöhnliche Kombination aus Rätselbuch und Mystery-Thriller mit zu ambitioniertem Finale

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alekto Avatar

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Mike Brink wird von Dr. Thessaly Moses um einen Besuch der Anstalt nahe Ray Brook gebeten, in der sie als leitende Psychologin eines Frauengefängnisses für ihre Patientinnen verantwortlich ist. Ihr schwierigster Fall ist Jess Price, die eine junge, vielversprechende Schriftstellerin gewesen ist, bevor sie fünf Jahre zuvor wegen des brutalen Mordes an ihrem Freund Noah Cooke verurteilt worden ist. Jess zeigt sich absolut unzugänglich, wenn sie Dr. Moses gegenüber hartnäckig jede Form der Kommunikation verweigert, seit diese die Stelle nach dem plötzlichen Unfalltod ihres Vorgängers Dr. Ernest Raythe übernommen hat. Doch als Mike Jess dann endlich begegnet, spricht sie zum ersten Mal seit langem.

Mit Mike Brink hat Danielle Trussoni einen ungewöhnlichen Protagonisten für ihren Roman Ingenium ersonnen, der wegen seiner einzigartigen Fähigkeiten heraussticht. Vor seinem Unfall auf der Highschool schien Mikes Weg als Quarterback und Captain des Footballteams vorgezeichnet zu sein, dessen nächster Schritt darin bestanden hätte, mit einem Football-Stipendium aufs College zu gehen. Aber ein Schlag auf den Kopf veränderte Mikes Verstand derart grundlegend, dass er erst glaubte, verrückt geworden zu sein. Vom Neurowissenschaftler Dr. Trevers erhielt Mike die Diagnose des Savant-Syndroms und lernte dank dessen Unterstützung mit seiner neu gewonnenen Begabung umzugehen, die ihn weit besser Strukturen als andere erkennen lässt. Diese Identifikation von Mustern geht mit einem fotografischen Gedächtnis für Zahlen und mehr einher. Nach dem Studium der Mathematik am MIT hat Mike seine Leidenschaft zum Beruf gemacht und sich aufs Erstellen anspruchsvoller Rätsel verlegt.
Der starke Einstieg in Ingenium hat mich als interessante Kombination aus einem Thriller mit Mystery-Elementen und einem Rätsel-Buch überzeugt. Dabei ist es Danielle Trussoni gelungen, das Triangulum, das Mike sich im Rahmen seiner Tätigkeit für die New York Times ausdenkt, die Codes, mit deren Hilfe er sich in verschlüsselter Form mit der sich im Gefängnis unter Beobachtung fühlenden Jess verständigt, prägende Rätsel aus jüngeren Jahren, über die eine Verbindung zu seiner Vergangenheit hergestellt wird, und deren Lösung erstaunlich flüssig in die eigentlich in diesem Roman erzählte Geschichte einzubetten. In diesem Kontext hätte ich einen separaten Anhang als sinnvolle Ergänzung angesehen, der sich mit den mathematischen Begriffen befasst, mit denen Mike in seinen Gedankengängen um sich wirft, wenn ihm eine sein Interesse weckende Zahl begegnet. Beispiele dafür wären die Definition der vollkommenen Zahl, des harmonischen Divisors, der Dreickszahl sowie der Stormer-Zahl und die Erläuterung von deren wesentlichen Eigenschaften.

Ingenium lediglich als Thriller einzuordnen wird dem spannenden Genre-Mix, den Danielle Trussoni in diesem Roman bietet, bei weitem nicht gerecht. Neben der Einbindung von Rätseln ist Ingenium um Mystery-Elemente angereichert, die sich etwa in den lebensechten Träumen von Mike zeigen, bald aber eher in Horror umschlagen. Dafür hat die Autorin erst im Frauengefängnis nahe Ray Brook, das in einem ehemaligen Tuberkulose-Sanatorium untergebracht ist, dann im Sedge Anwesen, das im Norden von Upstate New York gelegen ist, perfekte Kulissen gefunden. Für letzteres wird Jess nach dem Tod seiner exzentrischen Besitzerin Aurora Sedge zur Homesitterin, als sich dann bereits in der ersten Nacht die unheimlichen Ereignisse überschlagen.
Mike, der sich selbst nicht so recht zu verstehen scheint, ist für mich schwer greifbar gewesen. Vor seinem Unfall habe ich dessen Charakterisierung trotz der stereotypen Anlage als angehender Football-Star als gelungener empfunden, indem er da für mich präsenter gewesen ist. Im Hier und Jetzt hingegen ist Mike abgesehen von seinen besonderen Fähigkeiten, auf die er in der Wahrnehmung von außen reduziert wird, eher blass geblieben. Dafür hat Danielle Trussoni neben Mike wesentliche Nebenfiguren, die teilweise erst im weiteren Verlauf eingeführt werden, mit einer interessanten Hintergrundgeschichte ausgestattet, die in einzelnen Kapiteln des Romans eingeschoben wird. Dabei hat die Autorin ein gutes Gespür fürs Timing bewiesen, indem ihr Erzählrhythmus von einer ausgewogenen Balance zwischen Vergangenheit und Gegenwart geprägt ist, der nicht zu Lasten der Spannung geht.

Im Vergleich zum starken Einstieg und einem Mittelteil, in dem auf zwei zusätzlichen Zeitebenen, die um abgründige Horror-Elemente angereichert sind, ein unerwartet düsterer Ton angeschlagen wird, ist das letzte Drittel von Ingenium deutlich schwächer ausgefallen. Das liegt wohl darin begründet, dass Danielle Trussoni in der ambitionierten Auflösung ihres Romans zu viel auf einmal wollte, ohne dass sich dessen unterschiedliche Komponenten zu einem stimmigen Ganzen zusammengefügt hätten. So ist die Autorin auf die Integration neuer resp. aus heiterem Himmel wieder auftauchender Nebenfiguren angewiesen, für deren Erscheinen wenig plausible bzw. zu konstruiert wirkende Erklärungen herhalten müssen, damit diese Protagonist Mike ihre Hilfe zukommen lassen können. Auch gestalten sich im Schlussteil die Übergänge zwischen den verschiedenen Handlungssträngen, die im Wesentlichen aus der Lethargie bestehen, mit der Mike auf seine durch die permanent angespannte Situation bedingte Überforderung reagiert, nicht ansatzweise so fließend wie am Anfang. Als überzeugender hätte ich Ingenium empfunden, wenn Danielle Trussoni sich im Finale dafür entschieden hätte, die religiös-esoterisch angehauchte Mystery-Geschichte, die den Kern ihres Buchs bildet, konsequent zu Ende zu erzählen. Auch hätte Ingenium gut getan, wenn die Autorin auf alles, was dessen Tempo ausbremst, verzichtet hätte. Dazu gehören die ausufernden Zweifel, mit denen Mike und eine zentrale Nebenfigur ihr Handeln zu hinterfragen beginnen. Zudem wäre, was für die Fortsetzung von Ingenium benötigt wird, besser auf sein absolutes Minimum zu reduzieren gewesen, um nur am Rande behandelt zu werden und den Fokus nicht in unnötiger Weise von den wesentlichen Punkten dieses Romans und der dabei aufgebauten Spannung abzulenken.