Der Sommer der großen Veränderungen

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buecherfan.wit Avatar

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Mit “Irgendwann werden wir uns alles erzählen” legt Daniela Krien einen sehr eindrucksvollen Debütroman vor. Schauplatz ist ein kleines Dorf in Sichtweite der nun nicht mehr existierenden Grenze zwischen der ehemaligen DDR und der Bundesrepublik. Es ist eine Zeit des Umbruchs nicht nur für die Region, sondern auch für die knapp siebzehnjährige Maria. Sie hat sich in den achtzehnjährigen Johannes Brendel verliebt und lebt mit ihm auf dem Brendelhof im sogenannten Spinnenzimmer unter dem Dach. Ihre Eltern sind geschieden. Sie hat lange mit der Mutter bei den Großeltern gelebt, konnte aber irgendwann die Traurigkeit der Mutter nicht mehr ertragen (“Es ist ihre Traurigkeit, die mich aus dem Haus getrieben hat. Die saugt mir die Kraft aus dem Körper und die Freude aus dem Herzen.” S. 46). Maria schwänzt die Schule, vergräbt sich lieber in Büchern und ist besonders fasziniert von den Brüdern Karamasow. Das junge Mädchen muss seinen Platz in dieser Familie finden, in der Johannes´ Vater Siegfried das Sagen hat. Sie hilft bei der Arbeit und lernt kochen von Großmutter Frieda. Frieda hat seit der frühen Kindheit eine sehr enge Verbindung zu Knecht Alfred, der unverheiratet geblieben ist und ebenfalls mit der Familie lebt. Eines Tages lernt Maria den vierzigjährigen Henner vom Hennerhof kennen, der im Dorf Außenseiter ist. Er hat eine geheimnisvolle Vergangenheit, aber er sieht blendend aus und hat eine starke Ausstrahlung. Die junge Maria verfällt ihm und lebt von da an in einem Netz von Lügen und Täuschung. Nur Knecht Alfred scheint Bescheid zu wissen und droht mit Blicken und anzüglichen Fragen alles aufzudecken.

Der Roman entwickelt eine ungeheure Sogwirkung, scheint unaufhaltsam auf eine Katastrophe zuzusteuern. Können die Liebenden der Entdeckung und unausweichlichen Ächtung durch die Dorfgemeinschaft entgehen, hat ihre Liebe eine Chance? Kriens Roman besticht durch die sorgfältige Charakterisierung der Protagonisten. Da ist das junge Mädchen Maria, das in diesem Sommer zur Frau wird und schwer an ihrem eigenen Schicksal trägt: ein Vater, der sich nie wirklich um sie gekümmert und die Familie frühzeitig verlassen hat, eine entscheidungsunfähige und immer traurige Mutter. Dann ist da Henner, gezeichnet vom furchtbaren Schicksal seiner Mutter und seinen eigenen Erfahrungen als Stasiopfer. Die Vergangenheit spielt in ihrer aller Leben eine große Rolle, hat Auswirkungen auf die Gegenwart. Die Autorin lässt die ehemalige DDR wieder erstehen mit allem, was dazugehört: Jugendweihe und Pionierlager, Enteignung und LPG, Stasiakten und Zuchthaus Bautzen, der Goldene Westen mit seinen unbegrenzten materiellen Möglichkeiten und nicht zuletzt mit seinen unbekannten Obst- und Gemüsesorten. Repräsentant des Westens ist für die Brendels Siegfrieds jüngerer Bruder Hartmut, der nun zum ersten Mal nach über zwanzig Jahren seine Mutter und seine Brüder wiedersieht und ihnen seine eigene Familie vorstellen kann. Daniela Krien zeigt, wie schwierig diese ersten Begegnungen sind, wie entfremdet die Menschen einander sind nach Jahrzehnten des Lebens in unterschiedlichen politischen Systemen.

Auch sprachlich ist Kriens Debütroman sehr überzeugend. Sie beschreibt die wunderschöne Landschaft und das Alltagsleben auf dem Hof mit allen anfallenden Arbeiten. Interessant ist auch die Idee, Frieda und Alfred sprechen zu lassen wie in einer anderen (preußischen) Zeit. Sie wenden sich an Maria in der dritten Person (“Hol sie doch ein paar Flaschen Wasser…”, S. 21, “Er grüßt mich auf Frieda-Art und sagt: “Na, ist sie wieder da?” “S. 112).

Alles in allem ist “Irgendwann werden wir uns alles erzählen” uneingeschränkt empfehlenswert, ein wirklicher Lesegenuss.