Irgendwo teilt jemand deine Sorgen. Vielleicht schon direkt neben dir.

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laberlili Avatar

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Am Ende der 10. Klasse wurde den daran Interessierten unserer Stufe eine Art dreitägiges Selbstfindungsseminar angeboten, zu dem sich kaum 15 Leute anmeldeten, worunter sich zu meiner anfänglichen Überraschung aber auch (generell war es eine sehr unerwartete, und erstaunlicherweise absolut cliquenfreie, Mischung an Teilnehmenden) gar die zwei "obercoolsten" Jungs unserer Stufe befanden, die, denen nichts etwas anhaben konnte, die, denen alles zuflog bzw. zugeflogen wurde, die, für die es immer perfekt lief... die, die doch bestimmt nur mitfuhren, um sich darüber (und wahrscheinlich über uns anderen Teilnehmenden) lustigmachen zu können. Pustekuchen: Beide waren von Anfang an, wie alle Anderen, absolut begeistert und sehr ernst mit von der Partie, waren ferner allen (und zugegeben teils wirklich albern anmutenden) Übungen gegenüber sehr aufgeschlossen und bemühten sich sogar, diverse Entspannungsübungen noch zu modifizieren und ich erinnere mich noch sehr genau, wie ich, als wir Vertrauensübungen durchführten, verwundert war, dass generell die Lässigsten unter uns, die sonst doch keine Gefahr scheuten, dort die meisten Probleme damit zu haben schienen, sich auf die Anderen zu verlassen: die Dynamik während dieser drei Tage war da sehr wechselhaft und während einer Gesprächsrunde, in der es um Träume und vor Allem auch Ängste ging, brach es aus unserem absolut coolsten Obercoolen als Erstes heraus und plötzlich war da alles anders, nachdem jede*r von uns offenbarte, womit er am Meisten haderte: Das war definitiv der Moment, in dem uns ALLEN klar wurde, dass wir zwar alle unterschiedlich, aber doch ziemlich gleich waren, dass wir uns vielfach mit denselben Sorgen rumschlugen, die aber häufig für uns behielten, um nicht zu riskieren, dass die Anderen schlecht von uns denken könnten, weil sich zum Beispiel längst erfolgreich eingeredet wurde, dass man den prügelnden Vater, den saufenden Vater, die tote Mutter, das Mobbing durch diese eine Clique in der Nachbarschaft etc. eben einfach ganz bestimmt verdient habe oder dass man im Gegenteil keine Selbstzweifel haben und keinen Druck verspüren dürfte, weil man immerhin aus dieser hochangesehenen, schwerreichen Familie stammte und als Millionärssohn könne es einem ja nur gut gehen - und dass es uns allen die Pubertät derbe erleichtert haben würde, hätten wir uns schon zu Beginn der Mittelstufe, oder wenigstens währenddessen, zusammengesetzt und diese Unterhaltungen geführt.

"Irgendwo wartet das Leben" hat mich sehr an diese drei Tage erinnert, nicht nur, weil die darin beschriebene Schulklasse ähnlich "groß" wie unsere damalige Gruppierung ist, sondern weil dort abwechselnd einige der Schüler*innen fokussiert werden und diese dort jeweils ihre eigenen Gedanken und Empfindungen beschreiben und dort ebenso klar wird, dass sie alle doch auch ihre Probleme haben, selbst wenn niemand sonst diese (dort) sieht, wie z.B. der Schüler, dessen Vorname zu einem eher abschätzigen Spitznamen verballhornt wird und der es gemäß der Anderen "doch gewöhnt ist, dass er so genannt wird; dem macht das nichts aus" und der sich dadurch aber eben doch getroffen fühlt und lieber beim echten Vornamen genannt werden möchte.
Orchid Mason ist als Neue in diesem Fall diejenige, die, die Dynamiken herausfordert und die Schüler*innen animiert, zu sich zu stehen anstatt sich unbedingt einfügen zu wollen und auch anzusprechen, was einen bewegt und was einem womöglich eben auch wehtut und sie zudem dazu bringt, sich gegenseitig Komplimente zu machen und zu äußern, was man (ggf. auch völlig Unerwartetes) an den Anderen schätzt - auch da erkannten Einige, dass sie eine ganz andere Außenwirkung haben als sie glaubten.
Es ist ein sehr psychologisches Buch: viel echtes Geschehen im Sinne von Abenteuer und Spannung gibt es da nicht und auch wenn die Kurzbeschreibung recht "magisch" angehaucht ist, so hat der Inhalt rein absolut gar nichts mit Fantasy zu tun. Dies ist ein ganz simpler zeitgenössischer Roman, der mir als Erwachsene sehr gut gefallen hat und der mir als 12Jährige Mut gemacht hätte, meine Perspektiven Anderer zu hinterfragen und daran zu glauben, dass niemand von uns frei von Sorgen, geschweige denn Macken und Eigenarten, war.
Das ist einer der Jugendromane, die zum Reflektieren einladen und angesichts seiner nachdenklichen Art sehe ich die Altersempfehlung "ab 11" auch als ganz gut getroffen an. Ich hatte zunächst überlegt, dass dies ein Buch für meine 9jährige Nichte sein könnte, die eine echte Leseratte ist und sich auch schon Bücher aus dem Regal genommen hat, die bei uns zur Schullektüre der 7. Klasse gehörten, und prompt in deren Inhalt versank, aber jene erzählten alle "wildere" Geschichten und an sich denke ich weiterhin, dass "Irgendwo wartet das Leben" sie durchaus ansprechen könnte; der Schreibstil ist toll und die jeweiligen Kapitel übrigens megakurz (also ideal, um Kinder, die noch lesen üben sollen, dazu zu bringen, "nur ein Kapitel zu lesen" ohne dass die Kinder an ihre Frustrationsgrenzen geraten); aber noch nicht jetzt. Dafür halte ich sie dann doch noch zu unstet, wobei ich einer introvertierteren, absolut schüchternen und vor Allem gedankenversunkeneren Version von ihr dieses Buch ohne zu zögern sofort in die Hand drücken würde. So werde ich es aber erst noch 1-3 Jahre beiseitelegen.