Einblick in das "gescheiterte" europäische Reformjudentum

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pastor_david Avatar

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"Raus aus den düsteren Ghettos, aus der Trostlosigkeit und dem Zwang der Orthodoxie, hinein in die Weltlichkeit, in die mitteleuropäische, also: die deutschsprachige Kultur!" (Seite 49)
Das traditionelle Judentum abschütteln, das alte hinter sich lassen und endlich jemand werden. Das hat Isidor geschafft, oder sollten wir sagen, er hat es versucht? Denn so einfach ist es nicht mit dem Abschütteln dann doch nicht. Und zu guter letzt akzeptiert es auch der einflussreiche Millionär und Lebemann: Er wünscht nach jüdischem Ritus, auf einem jüdischen Friedhof, bestattet zu werden.
Mit "Isidor" nimmt uns Shelly Kupferberg mit in die Lebens- und Leidensgeschichte ihrer Ahnen. Der Leser nimmt an der wundersamen Reise aus dem ärmlichen Galizien in die Kultur- und Bildungsmetropole Wien teil. Wir erleben den rasanten Aufstieg des Ur-Großonkels der Nichte und hören doch während des Lesens zwischen den Zeilen, wie aus der Ferne, das Donnern der sich ankündigenden Katastrophe. Der Holocaust, der wie ein Tsunami unaufhaltsam heran rast.
Die Autorin hat gründlich in Wien, Tel Aviv und anderen Orten recherchiert. Sie konnte überraschend viele Informationen zusammentragen und uns so ein komplexes Bild über ihre Familiengeschichte zeichnen, welches berührt und erschreckt.
Besonders fatal ist das jüdische Bedürfnis nach Assimilation, dass Ur-Großonkel Isidor schlussendlich blind gemacht hat für das kommende Drama. "Sie werden mir schon nichts tun."
Ein packendes Buch, dass zum Nachdenken und Mitfühlen einlädt. Ich freue mich für Shelly Kupferberg, dass sie mit diesem Buch ihrer Familie ein Erinnerung schaffen konnte, die über verwitterte Grabsteine hinausgeht.