Mehr als nur das Porträt eines jüdischen Lebens

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Mehr als nur das Porträt eines jüdischen Lebens
Shelly Kupferberg, Journalistin, in Israel geboren, in Berlin lebend, begibt sich auf eine Entdeckungsreise. Sie beginnt, sich ihrem Urgroßonkel Isidor Geller, ehemals ein Millionär und Dandy in Wien, zu nähern. Zuerst ist es wenig, was sie in der Hand hat, aber eigentlich viel mehr, als von vielen Juden nach dem Holocaust überhaupt übriggeblieben ist. Und so startet sie eine ungewisse, oftmals überraschende und sehr traurige Suche nach den Details. Wir erleben einerseits ihre Recherche – andererseits tut sich mit Kupferbergs Hilfe eine reichhaltige jüdische Familiengeschichte auf. Das heutige Wissen, dass diese Geschichten oftmals tödlich im Holocaust oder in der leidvollen Vertreibung und Emigration enden, macht das Lesen nicht weniger spannend.
Isidor kommt als Israel im tiefsten Galizien zur Welt. Der Vater Eisik Judenfreund war ein Talmudgelehrter, die Mutter Batja Geller widmete sich nach der Heirat 1880 dem Haushalt und den fünf Kindern, sie war es, die den Unterhalt der Familie gewährleistete. In dieser jüdisch-orthodoxen Familie wurde viel Wert auf Bildung gelegt, der Junge Israel wurde ein „Bücherwurm“, besuchte später das Gymnasium in Kolomea, das er glänzend beendete. Nun stand einem Studium in Lemberg nichts mehr im Wege, es sei denn, man ließ sich von Armut abhalten. Aber das war Israels Sache nicht. Schon 1905 war der älteste Bruder David nach Wien gezogen, 1908 war Israel nicht mehr zu halten, riss auch den Bruder Rubin mit und kam so mit gerade einmal 22 Jahren in die verheißungsvolle Kulturmetropole. Und er legte sich einen neuen Vornamen zu: Isidor, so wurde er Herr Dr. Isidor Geller.
Auch Fejge, seine einzige Schwester, geht diesen Weg nach Wien, nachdem ihre Ehe mit einer zeitigen Witwenschaft endete. Sie nennt sich fortan Franziska und beginnt mit einer Ausbildung. Schon bald wird diese ehrgeizige junge Frau ein eigenes Geschäft haben, ihre Mutter lebt dann bei ihr und kümmert sich um den kleinen Enkelsohn Munio.
Isidor entwickelt sich in Wien zu einem Geschäftsmann par Exzellenz, im Weltkrieg ist er mit seiner Lederfabrikation unabkömmlich und entgeht dem Schützengraben. Bald erhält er den erträumten Titel Kommerzialrat im k. u. k.-Reich. Er macht Geld, viel Geld, und auch das Kriegsende und der Zerfall von Österreich-Ungarn kann ihm nichts mehr anhaben. Der Mann entwickelt sich zum Multimillionär, er brauchte gar nicht nach Amerika zu gehen, um sich diesen Traum zu erfüllen. Immer mehr wendet er sich von der jüdischen Religion ab, Synagogengänge sind nun nicht mehr nötig, er hat seine „Kreise“ gefunden, gibt Feste und genießt das kulturelle Leben in Wien. Auch das Liebesleben kommt nicht zu kurz. Mit seinem Geld hilft er Verwandten und Bekannten, zeigt sich freigiebig und weltoffen. Die „goldenen Zwanziger“ werden für ihn und die seinen das Eldorado.
Aber es ziehen dunkle Wolken auf am blauen Himmel über Wien, Antisemitismus macht sich breit, der Blick ins aufstrebende Deutsche Reich und zum deutschen Kanzler vernebelt so manchem Wiener das Gehirn. Dass in den 1930er Jahren die NSDAP in Österreich verboten ist, hält gewisse Kreise nicht davon ab, den Nationalsozialismus auch in Österreich für erstrebenswert zu halten. Die Wende kommt am 12. März 1938 mit dem „Anschluss“ Österreichs, was danach geschieht, ist hinreichend bekannt.
Wie Shelly Kupferberg aber jenen Absturz Österreichs in die Barbarei beschreibt, das ist so dramatisch, bedrückend und beängstigend, das muss jeder Leser selbst lesen. Mir hat es schlaflose Nächte bereitet, obwohl ich mit der Geschichte des Holocaust und den unmenschlichen Auswüchsen bestens vertraut bin.
Shelly Kupferberg macht sich ganz am Ende des Buches auf den Weg zum Friedhof, um Isidors Grab zu besuchen. Erst hier erklärt sich das poetische Umschlagbild. Ein irgendwie tröstliches Ende.
Shelly Kupferberg hat einen angenehmen Schreibstil, sie entspricht zufällig ganz meinem Geschmack. Da sie auch noch – genau wie ich –, die Geschichte ihrer zum Teil vernichteten, zum Teil überlebenden Familie erforscht und beschreibt, fühle ich mich ihren Gedanken und Gefühlen sehr eng verbunden.
Ich empfehle dieses Buch uneingeschränkt jedem, der an der jüdischen, der deutschen, der österreichischen Geschichte, an Schilderungen von Wien oder Lemberg, an menschlichen Tragödien und menschlichem Großmut ebenso interessiert ist, wie an der Hölle, die Menschen anderen Menschen zu bereiten willens und in der Lage sind.
Mehr als 5 Sterne gehen leider nicht.