Wieso ist er geblieben?

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aischa Avatar

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Journalistin und Wahlberlinerin Shelley Kupferberg debütiert als Schriftstellerin mit diesem kleinen, aber feinen Buch über ihren Urgroßonkel Dr. Isidor Geller. Eigentlich scheint von dem schillernden Wiener Salonlöwen nicht viel mehr als ein Besteckkasten übrig geblieben zu sein, nachdem die Nazis einen Großteil des Vermögens des jüdischen Unternemers konfisziert hatten. Doch die Autorin findet anhand akribischer Recherche in zahlreichen Archiven und privaten Quellen viele biografische Bruchstücke, die sie zu einem erstaunlichen Lebensweg zusammen setzt.

Aufgewachsen in Armut als Sohn eines jüdischen Gelehrten zieht es Isidor vom "Schtetl" in der osteuropäischen Provinz in die Kulturmetropole Wien, damals (um 1900) die sechstgrößte Stadt der Welt. Und er schafft den wirtschaftlichen wie gesellschaftlichen Aufstieg, ist ein erfolgreicher und angesehener Unternehmer - bis mit dem sogenannten "Anschluss" auch Österreich zur Hölle wird, in der Nationalsozialisten ungestraft sadistische Quälereien an Juden verüben dürfen.

Das schmale Buch ist stellenweise mehr erzählendes Sachbuch als Romanbiografie, etwa wenn Kupferberg die Perspektive wechselt und von ihren Nachforschungen berichtet. Gleichwohl hat die Lektüre mich sehr berührt, der Fremde Isidor wurde mir vertraut und ich fühlte mit ihm mit. Es bleibt eine große Frage: Wieso ist er nicht geflohen, als es noch möglich war? Das kann auch die Autorin nicht beantworten. Doch man erhält tiefe Einblicke in die jüdische Kultur. Ein Familienstammbaum sowie ein erstaunliches Antikriegsgedicht von Kupferbergs Großvater bereichern diesen gelungenen Erstling überdies.