„...einfach dein gutes altes Leben weiterleben...“ - oder nicht?

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downey_jr Avatar

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"Es ist nicht so, dass mir meine Endlichkeit nicht bewusst ist. Ich werde sterben, ich weiß das, das Leben, das vor mir liegt, ist kürzer, vielleicht sehr viel kürzer als das Leben, das ich schon gelebt habe. Das Leben, das vor mir liegt, ist zwar immer noch von einem gewissen Aufbruch bestimmt, von Träumen und Zielen, aber auch von Abschieden, kleinen und entscheidenden: von Menschen, von Träumen, vom Jungsein, von Plänen, die ich nicht mehr umsetzen werde."

Alles beginnt damit, dass ihr Zahnarzt der namenlosen Ich-Erzählerin mitteilt, dass ihr Zahn kaputt und nicht mehr zu retten ist. Eigentlich war die Protagonistin, die neben ihrer Stadtwohnung auch ein Haus auf dem Land hat, in das sie sich zum Schreiben zurückzieht (das liest sich irgendwie autobiographisch anmutend), bisher recht zufrieden mit ihrem momentanen Leben. Vom Partner seit 10 Jahren getrennt, die beiden Kinder aus dem Haus, lebt sie mit ihrem Hund und vielen guten Freund*innen ein angenehmes Leben, ist gesund und fit. Doch plötzlich wird sie sich ihrer Sterblichkeit deutlich bewusst und denkt über ihr Leben nach.
Dass ihre beste Freundin Therese nun Eddie heiraten möchte, gibt ihr ebenfalls viel Stoff zum Nachdenken. Und ausgerechnet jetzt trifft sie im Supermarkt auch Friedrich wieder, einen Mann, mit dem sie in jüngeren Jahren mal eine kurze Beziehung hatte. Und sie beginnt sich zu fragen, ob sie es wagen soll, sich nochmal auf die Liebe, auf einen Mann einzulassen.

"Verliebtheit dagegen: Sie stürzt mich in die maximale Unsicherheit, jedes Mal. Jedes Mal beginne ich unmittelbar, an mir zu zweifeln, an meinem Aussehen, meinen Zähnen, an der Form und der Länge meiner Beine, der Art, wie ich mich anziehe, ob ich mehr Kleider tragen, mich überhaupt weiblicher kleiden sollte. Dinge wie die Flecken auf meiner Haut, die die meiste Zeit nur für mich sichtbar sind, werden für die fremden Augen plötzlich auffällig. Alles an mir ist ausgestellt, dem Geschmack eines einzigen Betrachters ausgeliefert, das Tor ist geöffnet für das Urteil dieses Betrachters, ich selber öffne das Tor und lade zum Urteil ein. Ich frage mich, ob es Frauen, Liebende überhaupt gibt, bei denen dieses Tor geschlossen bleibt, die dem fremden Blick souverän standhalten, ihn nicht zu ihrem eigenen machen, einen Blick, der misst, wiegt, vergleicht, zerfleischt. Ob nur ich so auf mich schaue, gespiegelt in den Augen des anderen, projiziert in den anderen. Ich bin noch lange nicht aus therapiert, noch immer nicht erwachsen, das wird mir klar, wenn ich wieder die Panik spüre, in die das Urteil anderer mich noch immer zu versetzen imstande ist."

"Ein Mann, den es nicht gibt, kann dich nicht enttäuschen, nicht quälen, nicht kränken."
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"Ein Mann, den es nicht gibt, kann dir nicht das Gefühl geben, dass ein altes Fahrrad wichtiger ist als du und deine Sorgen."
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"Man muss nur aufpassen, dass ist diesen Mann nicht gibt, das ist alles."
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Wenn es den Mann nicht gibt, kannst du einfach dein gutes altes Leben weiterleben, an dem nichts auszusetzen ist, nämlich gar nichts..."

Doris Knecht kenne und liebe ich schon immer für ihre feinsinnige Beobachtungsgabe, für ihren gleichermaßen humorvollen wie tiefgründigen Schreibstil. Das macht auch diesen eher leisen, nachdenklich stimmenden Roman aus.

"Dieser Satz mit der Komfortzone, die man unbedingt verlassen müsse: Ich will da nicht mehr raus. Ich habe meine Komfortzone oft genug verlassen, als ich jünger war, es war sehr anstrengend, mir reicht's jetzt. Es war oft lohnend und manchmal nicht, oder vielleicht eher umgekehrt. Ich bleibe jetzt lieber im sicheren Warmen. Wenn ich es verhindern kann, gehe ich da nicht unbedingt wieder hinaus. Es bricht sowieso immer etwas Unkontrollierbares in diese Komfortzone ein..."

"Ich glaube, dass die romantische Liebe schädlich für mich ist, nicht nur für mich, für die meisten Frauen, sie schwächt uns, sie gaukelt uns eine falsche Sicherheit vor, sie raubt uns unsere Freiheit und Unabhängigkeit "

Ich kann „Ja, nein, vielleicht“ jedem empfehlen, der ruhige, nachdenkliche Bücher mögen, die viel Stoff zum Nachdenken (über das Leben, die Liebe; Freiheit und Beziehungen) bieten. Ein kluger, scharfsinninger Roman, der mich begeistert hat.