Der Junge aus der Einwandererfamilie und die deutsche Professorin

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petris Avatar

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Wenn man selber viel liest, gibt es nichts Schöneres als mit anderen Vielleser:innen, die einen ähnlichen Büchergeschmack haben, vernetzt und befreundet zu sein. Denn so stößt man immer wieder auf Titel, die man selber übersehen oder falsch eingeschätzt hätte. Bei „Jahre mit Martha“ ging es mir so. Nach dem Klappentext hätte ich eine klassische Liebesgeschichte zwischen Jugendlichem und älterer Frau erwartet, alles hart am Rande des Missbrauchs. Ein Thema, das ich auch literarisch aufgearbeitet und überhöht, einfach nicht lesen möchte.
Zum Glück hatte sich meine Freundin Michi nicht abschrecken lassen, sie hat das Buch gelesen, sehr gemocht, mir wärmstens empfohlen und geborgt.
„Jahre mit Martha“ hat mir von der ersten Seite an gefallen. Ich mochte die empathische und zugleich messerscharf beobachtete Erzählweise des Autors. Für mich stand im Roman gar nicht zu sehr die Liebesgeschichte zwischen Zeljko und Martha im Mittelpunkt, vielmehr war es eine Coming of Age Geschichte als Einwandererkind in Deutschland. Mit allen Vorurteilen, allen Unterschieden, allen Schwierigkeiten, die dazu gehören.
Aber von vorne: Zeljkos Eltern sind Kroaten aus Bosnien und Herzegowina, sie arbeiten viel, um sich und ihre Kinder zu versorgen, doch auch die Kinder müssen von Anfang an mithelfen. Als Zeljko Martha Gruber kennenlernt, die Professorin, bei der seine Mutter putzt und einen Sommerjob als Hausmeister bei ihr bekommt, taucht er in eine völlig neue Welt ein, eine, die er schon vorher zu greifen versucht hatte, indem er las, was ihm unter die Finger kam, sich bemühte, neue Fremdwörter zu lernen. Doch nicht nur diese Welt der Bildung, auch die Frau selbst fasziniert ihn. Eine Faszination, die erwidert wird. Aber nicht ausgenutzt. Zeljko ist gerade mal 15!
Viele Jahre später begegnen sie sich wieder, der Altersunterschied ist noch immer groß, doch Zeljko ist erwachsen. Er hat sich sein Abitur hart erkämpft, ein Stipendium in München bekommen und schlägt sich mit einem zusätzlichen Job durch. Martha wird seine Liebhaberin, seine Unterstützerin, seine beste Freundin. Ein wichtiger Mensch in seinem Leben, auch wenn sich ihre Lebenswege wieder trennen werden.
Wunderschön verwoben in diese Geschichte ist der Alltagsrassismus, der Einwandererkinder überall trifft. Sei es in der Berufsberatung, sei es in der Schule, bei der Schulwahl, … Und auch das Aufwachsen in einfachen Verhältnissen, in einer Welt ohne Bücher, ohne Theater, ohne Kultur, ohne das Selbstbewusstsein, das Zugehörigkeit und / oder Geld verleihen, machen es schwer. In Kordic Roman wird das in ganz vielen alltäglichen Szenen bewusst gemacht.
„Jahre mit Martha“ ist ein wunderbar erzählter Roman voller Empathie und voller Gesellschaftskritik, der gleichzeitig sehr schön zu lesen ist und den man einfach lieben muss. Ich mochte ihn sehr!