Familie ist Heimat

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„Martha war eine blonde Professorin aus Heidelberg, meine Baba war eine zahnlose Analphabetin aus der Herzegowina. Sie war selbstsicherer als ich.“

„Jahre mit Martha“ ist ein Roman, in welchem die Geschichte eines Migrantenkindes erzählt wird. Die Handlung setzt in den 1990er Jahren ein, es ist die Zeit vor der Einführung des Euro in Deutschland. Der Ich – Erzähler Željko „Jimmy" Kovačević führt durch das Geschehen. Der Protagonist ist ein Gastarbeiterkind. Die kroatischen Eltern waren auf der Suche nach einem besseren Leben (oder durch das Anwerbeabkommen zwischen der Bundesrepublik Deutschland und Jugoslawien im Jahr 1968 motiviert) einst aus der Herzegowina in die BRD migriert. Der Vater hat zwei Jobs, er ist Bauarbeiter und Hausmeister, die Mutter hat drei Putzstellen, zu fünft wohnt die Familie in zwei Zimmern. Mit 15 Jahren lernt der Protagonist die 40jährige Professorin Martha kennen. Während seine Mutter bei Martha putzt, erledigt der Teenager Reparaturarbeiten im Garten. Jimmy ist fasziniert von der bildungsbürgerlichen Selbstverständlichkeit, mit der Martha ihr finanziell sorgloses Leben lebt. Zunächst ist ihre Beziehung eine rein platonische. Als der Protagonist ein Studium im teuren München aufnimmt, ist es Martha, die ihm dieses durch eine Bürgschaft erst ermöglicht. An der Universität lernt Jimmy einen neuen „Gönner" kennen, der ihn jedoch fallen lassen soll wie eine heiße Kartoffel - Martha wird eine Konstante in Jimmys Leben bleiben…
Coming of Age, Gastarbeiterschicksal, Identitätskrisen – diese Themen werden im Roman unter anderem abgedeckt. Problemfelder werden direkt benannt, der Leser muss nichts zwischen den Zeilen erahnen. Stilistisch hatte ich von der Lektüre mehr erwartet, die lineare Erzählstruktur ist simpel, trägt aber auch zur Spannung im Roman bei, die Geschichte ist fesselnd & vielschichtig. Auch Fatma Aydemir hat mit „Dschinns" einen Migrationsroman vorgelegt, den ich stilistisch stärker, aber inhaltlich schwächer als „Jahre mit Martha“ fand. Bei der Lektüre von Kordić‘ Roman hat man nicht das Gefühl, dass (wie bei Aydemir) ein Katalog von identitätspolitischen Thesen abgearbeitet wird. „Jahre mit Martha“ ist auch nicht so gefällig geschrieben wie Stanišićs „Herkunft“ (welches sich liest wie ein Mix aus „Die Rolle meiner Familie in der Weltrevolution“ und „Steffie Speck in the jaws of life“). Es ist schon ironisch, wenn Menschen wie Kordić oder Aydemir (Autoren, die in Deutschland Karriere gemacht haben) Geschichten vom Scheitern & von struggle schreiben, denn es gibt sie wirklich, die Željkos, Željkas und Huseins, denen es trotz (oder gerade wegen) Stipendien und Nebenjobs nicht gelingt, ein Studium abzuschließen, andererseits ist es wichtig, dass diese Menschen zumindest als Romanfiguren eine Stimme erhalten.
Für Gastarbeiterkinder wird „Jahre mit Martha" nicht viel Neues bieten, deutsche Leser könnten von den stellenweisen fast platt vorgetragenen Wahrheiten abgeschreckt sein. Festzuhalten ist, dass es so etwas wie die eine migrantische Community nicht gibt, dies wird vom Autor schön herausgearbeitet. Auch führt eine Migrationsbiographie nicht zu unbedingter Solidarität. Der Dozent Alex Donelli erwähnt seine italienischen Wurzeln nicht ohne Hintergedanken. Er soll Jimmy gnadenlos ausbeuten, anders als die Deutsche Martha. Martha instrumentalisiert Jimmy ebenso wie Jimmy ihr gesellschaftliches und handfestes Kapital ausnutzt. Für Martha besitzt Jimmy einen exotischen working- class - Sexappeal, Jimmy hingegen fühlt sich irgendwie unwohl mit Mädchen seines Alters, außerdem ist er bisexuell und heimlich schwul. Hat er einen Mutter – bzw. Vaterkomplex? Die Eltern, die 24/7 malochen, sieht er selten und er stellt fest – „ich hatte keine Vorbilder“. Für eine Identitätskrise muss man nicht sexuell verwirrt sein, es reicht schon, als diskriminierter Ausländer zwischen den Stühlen zu sitzen und auf seine Herkunft und Klasse reduziert zu werden. Die Kombination „Migrantenarbeiterkind & schwul“ hat Christos Tsiolkas brillant und glaubwürdig in „Barrakuda“ abgedeckt, für mich kommt „Jahre mit Martha“ leider nicht ganz an „Barrakuda“ heran. Ich finde es aber schön, dass im Roman (anders als in „Restaurant Dalmatia“ von Marinić) die erste Gastarbeitergeneration nicht mit Vorwürfen überzogen wird. Željko glaubt, durch Bildung ein vollwertiges Mitglied der deutschen Gesellschaft werden zu können, um nicht ständig seinen „Respekt vor Deutschland“ beweisen zu müssen. Doch auch mit einem Universitätsabschluss und einem gut bezahlten Job gelingt der soziale Aufstieg nicht – es fehlt der richtige ‚Stallgeruch‘ (und eine fette Erbschaft). Depressionen, Krise und schließlich self – fulfilling prophecy? Der Handwerker Željko findet seinen Frieden schließlich, als er in den Schoß der Familie zurückkehrt und sich auf seine Wurzeln besinnt…
„Jahre mit Martha“ weckt beim Leser eine falsche Leseerwartung, denn es ist keine romantische Liebesgeschichte, die präsentiert wird. Für mich war diese Liebe nicht wirklich glaubwürdig, daher hätte ich als Autorin einen anderen „Aufhänger“ gewählt. Im Kern ist der Roman eine messerscharfe Gesellschaftskritik, die mich oft zum Lachen brachte („Wir fluchen nicht.“) und stellenweise erschreckend treffsicher („Werdet unsichtbar!“) ist. Ich fand es aber seltsam, dass im Roman zwar die NSU-Morde erwähnt werden, nicht aber Solingen & Mölln. Kordić liefert Anekdoten, die sich tatsächlich so abspielen könnten, und macht sie durch eine humorvoll – zynische Darstellung erträglich („BAUŠTELE ARBEITEN ŠLAFEN“).
„Martha“ ist auch ein Plädoyer gegen Nationalismus, und ein Hinweis auf migrantische Generationsunterschiede („Sie strotzten vor Selbstbewusstsein und hatten richtig Lust auf Deutschland.“).
Die große Stärke des Romans ist die Kritik am Klassismus. Wenn Kinder schon in der vierten Klasse „aussortiert“ werden und nicht etwa 8 Jahre Zeit haben, um sich zu beweisen, läuft etwas schief.
Am Ende lebt die Kovačević – Sippe als Patchworkfamilie (mit einem dt. Namen am Klingelschild) unter einem Dach. Dieses Plädoyer für ein Miteinander der Generationen ist richtig, aber es ist auch seltsam, dass Željkos Eltern das Rentenalter überhaupt erreicht haben. Anders als für Željko gibt es für viele soziale Aufsteiger kein Zurück, sie sind der eigenen Schicht fremd geworden und gehören andererseits nicht zum deutschen Establishment. Der Leser kann die Lektüre jedoch mit einem guten Gefühl beenden.