Was ist Heimat?

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emma winter Avatar

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Eine Anziehung, die keiner richtig erklären kann: Martha Gruber, 40 Jahre und Professorin - Željko alias Jimmy, 15 Jahre, dessen Familie aus der Herzegowina stammt und dessen Mutter bei Frau Gruber putzt. Jimmy erledigt während der Sommerferien einige Arbeiten in Haus und Garten. Bei Grubers gibt es eine riesige Hausbibliothek, Jimmys Familie besitzt nur zwei Bücher. Für den Jungen liegt hier der Unterschied zwischen seiner Familie und den Grubers, nicht in Haus, Pool und Auto. Der Zugang zu Bildung scheint ihm die universelle Lösung zu sein.

"Ganz gleich, wie viele Arbeitsstellen meine Eltern noch annehmen würden - hier sah ich alles, was ich von ihnen nie würde bekommen können. Hier in diesem Raum, das dachte ich damals, lag das verborgen, was die Voraussetzung dafür sein musste, ein kluger Mensch zu sein." (S. 52)

Als die Ferien vorbei sind, trennen sich die Wege der beiden. Jimmy beginnt nach dem Abitur ein Studium in München. Hier trifft er auf den umschwärmten Literaturprofessor Alex Donelli und wird durch einen Zufall sein Assistent. Er wird Martha wieder begegnen. Eine Reise in die Herzegowina und illegale Geschäfte stehen ihm bevor, ehe er endlich glücklich werden wird - anders als er es sich gedacht hatte.

Mir haben die ersten 110 Seiten wahnsinnig gut gefallen. Wie Jimmy über sein Leben reflektiert, die Zukunft, seine Familie, was es heißt "nicht deutsch" zu sein, das war in Verbindung mit der Sprache ganz großartig zu lesen. Der Roman ist in der Ich-Perspektive des Protagonisten im Rückblick verfasst, deswegen spricht und reflektiert der 15-Jährige wie ein Erwachsener. Als Martha erneut in "Jimmys" Leben tritt, hat sich der "Sound" der Geschichte irgendwie geändert und ich habe diese Passagen nicht mehr mit der gleichen Begeisterung gelesen. Die intime Beziehung der beiden empfand ich als - sagen wir mal - irritierend. Zum Ende hin hat es mir dann wieder besser gefallen, obwohl die Handlung nach dem ersten Drittel eher episodenhaft wurde und ich auch nicht mit allem etwas anfangen konnte. Was sollte z.B. die Szene im Heizungskeller? Die Stringenz ging für mich teilweise verloren und auch ein bisschen die Leichtigkeit.

Dennoch ist das Buch lesenswert. Es gibt so viele schlaue Sätze, die zum Nachdenken anregen. Über das Leben im Allgemeinen, über Glück und wie man sich fühlt, wenn man keine richtige Heimat mehr hat.

Und es gibt viele witzige Sätze in diesem Roman, der über weite Strecken sehr unterhaltsam ist und ich fand Jimmy und seine weitverzweigte Familie sehr sympathisch und ich habe mit ihnen mitgefühlt. Der Autor hat seine Figuren ganz liebevoll gestaltet und die Geschichte ist gespickt mit gut beobachteten Details. Die Lesewut, die nur durch die Altpapiercontainer gestillt werden kann, der Besuch beim BIZ, die Arbeit an der Uni und mit Donelli, die Begegnung mit der Reinigungsfrau bei CBM etc.

Jimmy versucht sein Glück (und seinen Weg heraus aus der Zwei-Zimmer-Wohnung seiner Familie) zu finden, aber er findet es nicht mit Martha und er findet es nicht mit Donelli. Dieses Beziehungsgeflecht, wer hier was von wem will und wer wen möglicherweise ausnutzt, fand ich sehr gelungen kreiert.

Ich möchte noch viel mehr schreiben, um die vielen Aspekte des Buches anzusprechen, das sollte aber bis hier her genügen, um neugierig zu machen, oder?