Aus Jim wird James

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leukam Avatar

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Percival Everett ist einer der renommiertesten schwarzen Schriftsteller der USA. Er hat über dreißig Bücher verfasst, darunter dreiundzwanzig Romane, von denen bisher nur wenige ins Deutsche übersetzt wurden. Doch spätestens seit seinem letzten Buch „ Die Bäume“ ist er auch bei uns mehr als ein Geheimtipp.
Mit dem Roman „ James“ ist er ein Wagnis eingegangen. Hat er doch einen Klassiker der amerikanischen Literatur, ja der Weltliteratur, genommen und seinen Fokus auf eine andere Figur gerichtet.
Bei Mark Twains „ Die Abenteuer des Huckleberry Finn“, 1884 erstmals erschienen, spielt der Sklave Jim eine wesentliche Rolle . Everett nennt ihn nun „ James“ und macht ihn zur Hauptfigur seines Romans. Und zeigt uns so durch dessen Perspektive, wie anders sich hier die Geschichte liest.
Anfangs ist Everett noch sehr nah am Original. Jim und Huck treffen sich auf einer Insel im Mississippi. Beide sind hierher geflohen, Huck vor seinem gewalttätigen Vater und Jim, weil er verkauft werden soll. Mit einem Floß versuchen sie Richtung Süden zu kommen, in einen jener Staaten, in denen die Sklaverei schon abgeschafft worden ist. Dabei erleben sie viele gefährliche Situationen und treffen auf einige Gauner und Betrüger. Doch was sich bei Twain als vergnügliches Abenteuer liest, bekommt bei Everett, bei allem Witz, den der Roman hat, eine bittere, ernste Note. Denn für James ist das alles kein Spiel, sondern lebensbedrohend.
Wenn sich die Wege der beiden ungleichen Flüchtenden trennen, gibt das Everett die Möglichkeit, völlig neue Episoden dieser Geschichte hinzuzufügen. James wird Teil einer Minstrel-Show, wo er zwischen lauter schwarz geschminkten Sängern auftritt; er wird verkauft und muss in einem Sägewerk schuften. Dabei muss er ständig um sein Leben fürchten. Hier zeigt Everett das ganze Ausmaß und die Brutalität des Rassismus und erspart uns dabei keine Grausamkeit. So wird z. B. ein Sklave, der James einen Bleistiftstummel zukommen lässt, erst gefoltert, dann gelyncht.
Schon von Beginn an aber ist die Figur Jim/ James anders, wesentlich komplexer angelegt. Das zeigt sich schon in der Eingangsszene. Wie bei Twain wird Jim hier Opfer eines Streiches von Tom und Huck. Doch bei Everett durchschaut der Sklave das Spiel und stellt sich nur dumm, denn „ Es lohnt sich immer, Weißen zu geben, was sie wollen,…“
So ist James höchst gebildet, hat in Richter Thatchers Bibliothek die großen Philosophen studiert und führt in seinen Träumen Diskussionen mit Voltaire und Locke. Dabei entlarvt er sie als nicht die großen Freiheitsdenker, sondern als Kinder ihrer Zeit.
Auch lässt Everett seinen James zweisprachig auftreten. Unter seinesgleichen sprechen die Schwarzen ein gepflegtes Englisch. Erst in der Begegnung mit Weißen verfallen sie in ihren Südstaatenslang. „ Die Weißen erwarten, dass wir auf eine bestimmte Weise klingen, und es kann nur nützlich sein, sie nicht zu enttäuschen…. Wenn sie sich unterlegen fühlen, haben nur wir darunter zu leiden.“ Da ist es nur folgerichtig, wenn James Kinder unterrichtet, wie sie mit Weißen zu sprechen haben. „ Sie genießen es, euch zu verbessern und zu glauben, dass ihr dumm seid.“ Hiermit entlarvt der Autor gar nicht subtil die Dummheit der Sklavenhaltergesellschaft. Und gleichzeitig wirft er einen Blick auf unsere Gegenwart, in denen schwarze Eltern ihren Kindern Verhaltensregeln im Umgang mit weißen Polizisten auf den Weg geben.
Everett verweist nicht nur auf die subversive Kraft des Lesens und von Bildung, sondern lässt James seine Geschichte aufschreiben. „ Mit meinem Bleistift schrieb ich mich ins Dasein. Ich schrieb mich ins Hier.“
James‘ Geschichte steht stellvertretend für die vieler. Es ist wichtig und notwendig, die Geschichte der Schwarzen im ( literarischen ) Gedächtnis zu behalten, deshalb schreibt James, deshalb schreibt Everett.
Ein weiterer Unterschied zu Twain liegt in der zeitlichen Verortung. Spielte „ Huckleberry Finn“ in den 1840er Jahren, so verlegt Everett seinen „ James“ ins Jahr 1861, rund um den Beginn des amerikanischen Bürgerkriegs. Aber auch hier macht sich die Hauptfigur keine Illusionen. „ Eins wusste ich: Was auch immer zu diesem Krieg geführt hatte, die Befreiung der Sklaven war ein Nebenmotiv und würde ein Nebenergebnis sein.“
Am Ende sieht James keine andere Lösung, als sich mit Gewalt sein Recht zu verschaffen.
Im Verlaufe der Handlung wird Jim zu seinem eigenen Herr; er legt seinen alten Sklavennamen ab und nennt sich fortan James. „ Mein Name gehörte endlich mir.“
Mit viel Phantasie und großer Sprachmacht hat Percival Everett einen Roman geschaffen, der zwar in der Vergangenheit spielt, aber aktuelle Debatten aufgreift und auf die Gegenwart verweist.
Lobenswert ist die Leistung des Übersetzers Nikolaus Stingl. Denn es war kein Leichtes, die spezielle Sprache, derer sich James bedient, in ein glaubwürdiges Deutsch zu transportieren. Diese Aufgabe hat er bravourös gemeistert.
Zwei Fragen stellen sich manche bei diesem Buch:
Die eine ist die nach der Legitimation. Darf Percival Everett das? Ja, denn Literatur darf alles. Außerdem ging es dem Autor nicht darum, Mark Twain zu demontieren. Mark Twain war kein Rassist, aber natürlich ein Kind seiner Zeit. Wie Everett in seiner Danksagung schreibt, sei der Roman eine Reverenz vor Mark Twain. „ Sein Humor und seine Menschlichkeit haben mich beeinflusst, lange bevor ich Schriftsteller wurde.“
Die zweite Frage ist, ob es überhaupt eine Neu- Erzählung dieses Klassiker braucht? Ja, denn es ist ein Buch für Schwarze und weiße Leser gleichermaßen. Den einen bietet er als Identifikationsfigur statt eines dümmlich- naiven Sklaven einen intelligenten, mutigen und selbstbewussten Mann, der für seine Freiheit und die seiner Familie kämpft und die anderen lässt er miterleben, wie sich die Welt einem Schwarzen zeigt.
„ James ist ein kluges, ein wichtiges Buch; eine fesselnde und bedrückende Lektüre.