Ein Meisterwerk

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Huckleberry Finn ist eines der ganz wenigen Bücher, die ich mehr als einmal gelesen habe. Ich bin mit der Geschichte also bestens vertraut. Neben Huck Finn gibt es dort eine besondere Gestalt: Jim, der gemeinsam mit ihm über den Mississippi flieht. Er wird in der Geschichte eher trottelig, wenn auch sehr hilfsbereit und liebenswürdig dargestellt. Genau diesem Jim - oder sagen wir lieber James - hat Percival Everett in seinem neuesten Roman nun ein Denkmal gesetzt. Und was für eines!
James ist nämlich alles andere als dumm. Er kann lesen und schreiben, versteht etwas von Philosophie und Politik. Vor allem versteht er aber eines: die Weißen dürfen auf keinen Fall erfahren, wie intelligent er ist. Damit würde er zur Gefahr für sie. Um jegliche Gefahr der Entdeckung zu vermeiden, sprechen er und die anderen Sklaven sogar in einer eigenen Form des Englischen, wenn sie mit Weißen kommunizieren. Sprechen sie allerdings untereinander, verwenden sie ganz normales, grammatikalisch völlig korrektes Englisch.
Im ersten Teil des Buches folgt die Handlung ziemlich genau dem berühmten Vorgänger. Als sich die Wege der beiden Flüchtenden jedoch trennen, nimmt die Geschichte einen anderen Verlauf. Da wir James‘ Geschichte nicht aus erster Hand kennen, sondern lediglich das, was er Huck bei ihrem Wiedertreffen erzählt, hat dies durchaus seinen Sinn. Doch auch die anschließenden Ereignisse lassen die ursprüngliche Handlung und einige ihrer Figuren in einem ganz anderen, nicht unbedingt positiven Licht erscheinen.
James ist ein Meisterwerk, nichts weiter und nichts weniger als das. Bei ihm kommt kein Weißer gut weg. Denn es gibt keine guten Herren, auch die vermeintlich guten sind schlecht. Percival Everett führt uns unseren Rassismus vor, wie es selten ein anderer getan hat.
Die zweite Meisterleistung in diesem Buch ist die Übersetzung von Nikolaus Stingl. Er versucht nicht etwa, die Sprache der Sklaven in etwas merkwürdig umgangssprachliches zu übersetzen. Er dichtet sie dagegen neu, schafft etwas eigenes. Dies ist dem Text absolut würdig und gibt ihm auch im Deutschen einen besonderen Ton.
Nach Demon Copperhead ist James die zweite Hommage an einen Klassiker, die ich dieses Jahr gelesen habe. Nach den Neuerzählungen der griechischen Mythologie scheint dies das neue große Ding zu sein. Wenn alle diese Werke derart gut sind wie die beiden, dann immer her damit!