Ein Roman wie eine beste Freundin

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luisa_loves_literature Avatar

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Ganz ehrlich: Was für ein Buch! Was für ein Roman! Was für eine Geschichte! Ein echter Glücksgriff – ich fühle mich, als hätte ich in kürzester Zeit eine beste Freundin gefunden. Ich habe jede Seite genossen: glänzende, interessante Unterhaltung mit einiger Tiefe und Interpretationspotential, eine eher seltene Kombi. Vom ersten Satz an taucht man in Hannahs Welt ein, in ihr besonderes Verhältnis zu ihrer sehr speziellen, etwas verschrobenen, eigenwilligen, aber unheimlich wachen Großmutter Evelyn, in ihre obsessive Liebe zu ihrem Professor, in ihre Selbstzweifel und Verlorenheit, die sich auf der Suche nach einem verschollenen Erbe nach und nach verflüchtigen.

Der Roman ist unglaublich fließend, gut und mit leichter Hand geschrieben. Es braucht immer nur ein, zwei Sätze und man ist wieder mittendrin in der Geschichte angekommen, die mit ihren unterschiedlichen Zeitebenen ein ziemliches „page turner“-Potenzial aufweist. Darüber hinaus ist der Text hervorragend und überzeugend kontextualisiert, bindet die verschiedenen Schauplätze und Zeiten sprachlich sehr gut in die Handlung ein und bietet geschickt eingewobene wichtige politische Einblicke, ohne die Story zu überfrachten. Besonders eindrücklich ist die Darstellung der immer furchtbarer, auswegloser und enger werdenden Welt der Goldmanns und der jüdischen Bevölkerung. Die Unmittelbarkeit, die Angst und vor allem auch der Drang, nicht glauben zu können oder zu wollen, was passiert, werden fühlbar transportiert.

Die Jagd nach der Vergangenheit, nach Erinnerungen und den Kunstwerken bieten einiges an Spannung, aber die besondere Stärke des Romans liegt unzweifelhaft in seiner nuancierten, umfassenden und fast schon als wertfrei und neutral zu bezeichnenden Figurenkonzeption. Die feine und durchdringende Beobachtungsgabe des Romans ist begeisternd - die Uniwelt, das Platzhirschgehabe, die Professorenallüren, die Aussichtslosigkeit und Frustration: das alles ist auf den Punkt beschrieben, ohne bitter oder zu übertrieben zu sein, und daher unglaublich gut. Darüber hinaus wird sich wunderbar bis in die Nebenfiguren eingefühlt. Die Autorin nimmt sie so, wie sie sind, und hält sich von zu offensichtlicher Sympathielenkung fern. Auf diese Weise gelingen ihr pointierte und nachvollziehbare, vor allem aber auch unterhaltende und sinnvolle, Charakterisierungen, die ihre Romanwelt bereichern und für ein hohes Maß an Authentizität sorgen. Dies schafft sie durch den konsequenten Wechsel zwischen Fremdperspektive und Innensicht und so liebt man als Leser Figuren wie den übermotivierten Jörg Sudmann, dessen Steckenpferd das Dritte Reich ist, oder die regimetreue Trude zwar nicht, aber man versteht, warum sie so sind, wie sie sind. Ein weiterer großer Pluspunkt im Rahmen der Figurenkonzeption ist der Verzicht auf gegenseitige, selbstbemitleidende Schuldzuweisungen unter den die Handlung tragenden Frauenfiguren. Das gerade so in Mode gekommene Thema der Verantwortlichkeit der Mutter am eigenen misslungenen Leben wird hier erfrischender Weise ausgespart, die Figuren sind bei aller Befasstheit mit ihren problematischen Themen sich ihrer eigenen Zuständigkeit deutlich bewusst.

Dabei will der Roman glücklicherweise nicht zu viel und vor allem nicht alle Stränge und Fäden am Ende lösen. Manche Wege sind eben – wie im echten Leben – auch Sackgassen und einige Themen muss man auch nicht zu einem Schluss bringen. Und wenn man dann für einen Roman wie diesen noch solch einen Schluss im Abendlicht hinbekommt, dann ist die Lesewelt doch einfach schön. Diesen Roman muss man lesen und genießen. Für mich hat er das Zeug zu einem meiner Lieblingsbücher.