Ein sehr gelungenes Werk, das einen so schnell nicht mehr loslässt und Bewusstsein schaffen kann

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Kennst du dieses Gefühl, wenn du ein Buch beendet hast und es in dir etwas zurücklässt, das du erst mal nicht richtig greifen kannst? Nicht weil es schlecht war - ganz im Gegenteil - sondern, weil es dich bewegt und etwas in dir verändert hat, aber du noch nicht weißt, worum es sich dabei handelt. Genauso ist es mir mit diesem Buch ergangen.

„Junge Frau am Fenster stehend, Abendlicht, blaues Kleid“ handelt von drei sehr individuellen und starken Frauen aus einer Familie, die durch verschiedene Einflüsse und Faktoren sehr geprägt werden, die jedoch alle durch ein Netz sehr offensichtlicher, aber auch kaum sichtbaren Fäden miteinander verstrickt sind. Die Geschichte, die sich über vier Generationen hinweg abspielt, beginnt bei Senta in Warnemünde, im Jahre 1922. Dort wirkt einem sofort kenntlich gemacht, wie unwohl sie sich in ihrer derzeitigen Situation, als werdende Mutter einer ungewollten Tochter, fühlt und wie langsam der Wunsch in ihr aufkeimt, aus diesem Leben reißaus zu nehmen. Doch dieser Wunsch hat folgenschwere Entscheidungen, die fast 100 Jahre später noch ihre Uhrgroßenkelin Hannah zu spüren bekommt, obwohl mit dieser nie über ihre leibliche Urgroßmutter und ihre jüdische Familie gesprochen wurde. Doch als ihre Großmutter Evelyn ein Brief aus Israel erreicht und Hannah diesen zu Gesicht bekommt, fasst sie den Entschluss, dem Geheimnis um ihre Familie endlich auf den Grund zu gehen.

Der Schreibstil von der Autorin ist sehr flüssig und ich mochte sehr gerne, dass das Buch aus der 3. Person geschrieben wurde und dabei eine auktoriale Erzählperspektive eingenommen hat. Dadurch war die Geschichte nicht zu emotional aufgeladen, allerdings wiederum auch nicht zu distanziert. Ich persönlich konnte mich jedoch anfangs nicht allzu gut mit den Protagonistinnen identifizieren, da sie alle sehr eigensinnige und teilweise auch schwierige Persönlichkeiten darstellen. Jedoch gibt genau das der Geschichte auch ein gewisses Profil, das nicht jedes Buch aufweisen kann und vor allem einen Wiedererkennungswert. Und auch wenn ich die Gedankengänge der drei Frauen anfangs nicht allzu gut nachvollziehen konnte, haben diese das Buch erst zu dem gemacht, was ich mir auch von ihm erhofft habe: einem abwechslungsreichen, spannenden, tiefgründigen und vielfältigen Werk. Denn wo anfangs noch ein großes Fragezeichen bezüglich des Verhaltens von beispielsweise Evelyn stand, herrschte am Ende der Geschichte eine befriedigende Klarheit, warum sie mit der Angelegenheit des Kunstvermögens so umgegangen ist. Zudem hat die Autorin eine ganze Menge weiterer vielschichtiger und gut durchdachter Charaktere erschaffen, die der Geschichte einen Feinschliff verleihen konnten.
Aufgrund dessen war es für mich auch sehr schwierig, das Buch erst mal aus der Hand zu legen, wenn ich es wieder anfing zu verschlingen, da ich unbedingt wissen wollte, wie sich die Charaktere weiterentwickeln und wie sich der Kreis schließen wird. Letztendlich habe ich das Buch trotzdem immer in etwas kleineren Happen über einen längeren Zeitraum gelesen, da sich neben das Gefühl der Neugier auch ein Gefühl der Bedrücktheit gedrängt hat, da die Geschichte an vielen Stellen Wendungen enthüllte, die ich erst mal sacken lassen und verdauen musste. Dies fasse ich jedoch keines Falls negativ auf, sondern sehe ich eher als Bereicherung, denn so hat das Buch mich nicht nur über etwas längere Zeit begleiten können, sondern hat auch langfristig etwas in mir verändert. Denn obwohl ich mich natürlich schon in der Schule und auch außerhalb dessen mit dem 2. Weltkrieg beschäftigt habe, gab mir dieses Werk nochmal einen ganz anderen Blickwinkel auf das Geschehen, da es einen ehrlichen und ungeschönten Einblick auf das gibt, was viele Menschen geprägt hat. Außerdem zeigt es, dass der Krieg bis heute seine Spuren hinterlässt, auch wenn sie manchmal kaum sichtbar sein mögen. Und ich habe zum Beispiel erst durch das Buch und die Frage, die sich Hannah mit der Zeit aufgedrängt hat, ob ihre Großmutter Evelyn ein Nazi gewesen sei, auch ein mal über diese Frage im Bezug auf meine Familie nachgedacht und mich mit ihr beschäftigt. Und auch wenn ich bisher noch keine Antwort auf sie gefunden habe und wenn ich ehrlich bin, vielleicht auch nicht finden möchte, ist es meiner Meinung nach super wichtig, ein Bewusstsein darüber zu schaffen, wie grausam der Krieg war und dass wir Verantwortung für das übernehmen sollten, was im letzten Jahrhundert gewaltig schief gelaufen ist.
Ich finde, genau das kann dieses Buch, Bewusstsein schaffen, mit einer Geschichte über eine außergewöhnliche Familie. Des weiteren hat mir die Geschichte auch noch die Botschaft übermitteln können, wie wichtig und essenziell Hinterfragen ist und das nicht immer alles so einfach und unkompliziert ist, wie es auf den ersten Blick scheinen mag.

Das Ende des Buches kam für mich tatsächlich etwas unerwartet und wenn ich ehrlich bin, habe ich mir etwas anderes herbeigesehnt, ein Ende, das Gerechtigkeit walten lässt. Als ich dann jedoch mit dem Werk fertig war und mir alles noch mal durch den Kopf gehen lassen habe, wurde mir bewusst, dass genau dieses Ende nötig war, um der Geschichte genau den Schliff zu geben, die es nötig hatte, um eine wichtige Botschaft vermitteln zu können. Denn erst wegen diesem Ende wurde mir bewusst, dass wir das, was geschehen ist, nicht mehr rückgängig und entschädigt machen können. Aber das, was uns zukünftig erwartet, können wir selber in die Hand nehmen, zum Positiven wenden und aus den Fehlern der Vergangenheit lernen, auch wenn es schmerzt.