Vier Frauen, ein Jahrhundert

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Der Titel von Alena Schröders Buch ist mir sofort ins Auge gestochen, weil er außergewöhnlich war. Ich mag kreative und ausgefallene Titel, weil sie meiner Meinung nach eine positive Vorahnung auf den Schreibstil der/des Verfasser*in geben. Die Umschlaggestaltung ist ebenso gelungen und sieht sehr edel und hübsch aus.
Bei „Junge Frau, am Fenster stehend, Abendlicht, blaues Kleid“ wurde diese Erwartung, die man oft von spannenden Titeln und schönen Einbänden hat, nicht enttäuscht: Auf eine stellenweise sehr poetische und bildlicher Weise erzählt Schröder eine Familiengeschichte, die fast ein Jahrhundert umspannt und den Leser auf eine Reise mitnimmt, in deren Rahmen die Protagonistinnen von Nord- nach Süddeutschland, von Dänemark nach Brasilien reisen, sich aber auch immer wieder in Berlin finden.
Angefangen bei der 18-jährigen Senta, die in Rostock in bescheidenen Umständen aufgewachsen, gefangen in einer unglücklichen Ehe und mit einer Tochter, zu der sie keine Nähe herstellen kann, davon träumt, ins Berlin der Wilden Zwanziger zu entfliehen. Ihre Tochter Evelyn, die bei ihrer Tante aufwächst und zu ihrer Mutter Senta zeitlebens ein ambivalentes Verhältnis pflegt, scheint ihrer Tochter gegenüber ähnlich distanziert zu sein, wie ihre Mutter gegenüber ihr und nur zu ihrer Enkelin Hannah spürt die inzwischen hochbetagte Evelyn eine Nähe, die auszudrücke ihr nur schwer gelingt. All diese Mutter-Tochter-Beziehungen umrahmen die eigentliche Handlung: Ein verschollenes Gemälde, das dem jüdischen Vater von Sentas zweitem Ehemann gehörte und das in einem Brief erwähnt wird, den Evelyn im Seniorenheim bekommt. Hannah, bisher nichts über diesen Teil ihrer Familienvergangenheit wissend, macht sich daran, auf die Spur dieses Bildes zu machen, dass eine im Abendlicht am Fenster stehende junge Frau in einem blauen Kleid zeigt.
Es ist ein Roman über Mütter und Töchter, deren Lebensumstände sich zur gleichen Zeit voneinander unterscheiden und sich gleichen. Genau wie ihr Aussehen. Es ist aber auch ein Roman über die Grauen des Krieges, über das Unrecht, das den Juden geschah, über Berlin, über Selbstbewusstsein und Stärke, über Armut, über Opfer und Täter, aber vor allem, was es heißt, eine Frau zu sein.
Mir hat das Buch sehr gut gefallen, ich konnte in jeder der Protagonistinnen etwas von mir selbst finden und habe besonders die Schilderungen über Berlin der 20er und 30er Jahre genossen.
Einen Punkt ziehe ich ab, weil mache Dinge zu offensichtlich/klischeehaft waren und weil ich finde, dass zu wenig über Sylvia, die Mutter Hannahs und die Tochter Evelyns, gesagt wurde. Ihr Leben hätte mich auch interessiert, weil sie seltsam zwei dimensional zurückblieb.