Weitreichende Familiengeschichte

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kleincaro89 Avatar

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Es ist ein eher sperriger Titel, der den Leser empfängt und der ihn lange Zeit im Ungewissen darüber lässt, weshalb die Autorin gerade diesen Titel gewählt hat. Doch entgegen der Sperrigkeit des Titels sind die ersten Seiten des Buches eingänglich und empfangen den Leser herzlich und offen.

Die Geschichte dreht sich um die junge Frau Hannah, deren einzige Verwandte ihre Großmutter Evelyn im Altersheim ist. Bei einem ihrer wöchentlichen Besuche, die drehbuchartig und eher kühl ablaufen, übergibt Evelyn ihrer Enkeltochter einen ungeöffneten Brief, von dem sie nichts wissen will. Darin wird Evelyn als die Erbin eines gestohlenen und als verschollen geltenden Kunstvermögens ihrer jüdischen Vorfahren benannt. Während Evelyn sich gegen alles wehrt, was damit in Verbindung zu stehen scheint, fängt Hannah an, Nachforschungen anzustellen. Wer waren ihre Vorgänger? Warum weiß sie bisher nichts über diesen Teil der Vergangenheit? Und warum weigert sich ihre Großmutter darüber zu reden?
Parallel zu der Geschichte im Hier und Jetzt wird die Geschichte von Senta erzählt, Evelyns Mutter, die in den 20er Jahren begann und sich über die Zeit des Dritten Reichs bis in die 50er Jahre hineinzieht. Senta, die ihre Tochter ohne Muttergefühle zur Welt bringt, die von ihrem Mann nicht geliebt wird und die sich nach einem Leben in Berlin sehnt. Senta, die nach Berlin aufbricht, ihre Tochter bei Mann und Tante zurücklassen muss, die das Leben führt, das sie sich immer gewünscht hat und die den jüdischen Journalisten Julius kennen und lieben lernt. Doch wie so vieles in dieser Zeit steht auch das Leben von Senta und ihrer neuen Familie auf der Kippe, ebenso wie die aufrechterhaltene Beziehung zu ihrer Tochter Evelyn.

Der Leser wird zum Gefährten von Hannah auf der Suche nach ihrer Familiengeschichte. Dabei wird er wohl oder übel mit all dem konfrontiert, was in Hannahs ungeplanten und ziemlich durcheinander geratenen Leben so abgeht. Da ist ihre nicht vorankommende Dissertation, die Liebesbeziehung mit ihrem verheirateten Doktorvater, die aufgedrängte und erzwungene Hilfe von Jörg Sudmann und eben die etwas schwierige Beziehung zu ihrer Großmutter. Doch so verkorkst Hannahs Leben auch sein mag, der Leser ist ihr Weggefährte und steht ihr bei. Für mich machte es beim Lesen den Eindruck, als musste diese Geschichte sein, als wäre dieser Teil des Buches gedichtet worden, weil es nicht ohne geht. Leider ist es aus meiner Sicht ein bisschen zu viel des Guten, denn es sollte wohl eher um die Familiengeschichte gehen als um das, was Hannah nicht zustande bekommt.
Während dieser Teil des Buches also eher die langsamen Entwicklungen zusammenfasst, ist es die Geschichte um Senta, viele Jahre zuvor, die für den Leser Licht ins Dunkel bringt und die die Hauptgeschichte des Buches ausmachen sollte. Denn hier wird dokumentiert, was geschah, was wirklich wichtig war und was viele Leben in die finalen Richtungen lenkte.

Die Autorin schafft es sehr schön, zwischen den beiden Handlungssträngen zu springen und mit einer Sprache den Leser einzufangen. Auch wenn es kein Krimi ist, den man hier in den Händen hält, sind die Geschichten aus der Zeit des Dritten Reichs fast schon eines solcher, denn an Spannung und untergründigen Anfeindungen hat es in den entsprechenden Kapiteln nicht gefehlt. Und so liest das Buch sich einfach weg, Seite um Seite, Kapitel um Kapitel.

Jörg Sundmann sagt an einer Stelle in dem Buch „…interessiert mich deine Geschichte tatsächlich.“ Und in der Tat hatte ich beim Lesen den gleichen Hintergedanken, nämlich den Fokus auf Hannahs Familiengeschichte, die aus meiner Sicht viel spannender war als die Geschichte der Gegenwart, die eher fingiert wirkte und schaute, wie möglichst noch ein bisschen mehr mit eingebunden werden konnte. Doch leider halten sich beide Buchteile die Waage.

Fazit: Eine Familiengeschichte, die vieles verbindet, vieles entzweit. Schön und angenehm zu lesen, doch für meinen Geschmack eher oberflächlich.