Das Abenteuer der Erinnerung

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Der kanadische Schriftsteller Menachem Kaiser hat seinen Großvater väterlicherseits nie kennengelernt. Dieser verstarb noch vor der Geburt seines Enkels, der nun seinen Namen trägt. Menachem (der Jüngere) spricht zwar jährlich zum Todestag mit seinem Vater auf dem Friedhof das Kaddish, aber er weiß so gut wie nichts über seinen Großvater.

Anlässlich einer Reise nach Polen greift er nach dem Zipfel, den er von seinem Großvater weiß. War nicht mal die Rede davon, dass es seinem Großvater nie gelungen war, den Familiengrundbesitz aus der Vorkriegszeit zurück zu erlangen? Natürlich beginnt der Autor nach weiteren Informationen über seinen Großvater zu forschen, der immer so schwer fassbar für ihn geblieben war. Dieser überlebte als einziges Familienmitglied den Holocaust. Nur wenig kann Kaiser von der Geschichte der Familie herausfinden.

Mit der überlieferten Adresse in der Hand macht sich der Autor auf den Weg nach Sosnowiec (im östlichen Teil Schlesiens) um den alten Besitz zu finden.
Kaiser nimmt uns nun mit auf eine sehr persönliche, literarische, historische, philosophische, gelegentlich auch unerwartet komische Reise. Die Wege sind immer verschlungen, enden gelegentlich in Sackgassen. Stets findet der Autor irgendwelche Überraschungen, aber nicht unbedingt das, was er eigentlich gesucht hat.

Tatsächlich steht er vor der angegebenen Adresse. Seine Gespräche mit den heutigen Bewohnern des Hauses führen ihm die Komplikationen seines Vorhabens vor Augen. Ihm wird das anstehende moralische Dilemma klar, das einer möglicherweise erfolgreichen Rückforderung folgt. Andere, eigentlich schuldlose, Menschen würden aus ihrem Zuhause verdrängt.

Die Geschichte dieses Hauses lassen Zweifel aufkommen, ob es wirklich das Gesuchte ist. Eine zwiespältige Rechtsanwältin, die auch nicht immer den Durchblick hat, wird angeheuert. Doch der Prozess der Rückforderung beginnt gleich damit, dass die im Holocaust getöteten Verwandten als tot erklärt werden müssen. Kein leichtes Unterfangen stellt sich heraus, auch wenn man denken sollte, dass diese Menschen ja sonst ca. 140 Jahre alt sein müssten. Die Reiseroute ins polnische Rechtssystem ist sehr betrüblich.

„Das Haus war also nicht das Haus, und das Gebäude war nicht das Gebäude, und Abraham war nicht mein Großvater, und meine toten Verwandten waren nicht tot, und Mythen sind hartnäckig, und Wahrheiten lösen sich auf, und Fiktionen passen ganz genau.“ S. 225

Auch einige Fehlinformationen werfen den Autor zurück oder leiten ihn auf ganz anderes Terrain. So entdeckt Menachem Kaiser zufällig familiäre Verbindungen zu einem Holocaust-Überlebenden Abraham Kajzer. Dieser entpuppt sich als Cousin seines Großvaters. Abraham hatte u.a. als Zwangsarbeiter in einem mysteriösen Tunnelkomplex der Nazis geschuftet. Ja, er ist sogar der Autor des Tagebuchs “Za Drutami Śmierci,”, in dem er auch über das „Projekt Riese“ berichtet, über das historisch kaum etwas bekannt ist. Durch diese Informationen wird er förmlich von den heutigen polnischen Schatzsuchern verehrt, die sich den Nazi-Schätzen verschrieben haben.

Eine Spur, der nun auch Menachem folgen wird. Seine parallele Suche führt ihn zu den KZs, manchmal begleitet von den Schatzsuchern, die das Tagebuch seines Verwandten als Schatzkarte oder -führer zum versteckten Raubgut benutzen. Manche glauben an einen Zug gefüllt mit Gold. Diese Schatzsucher verbinden ihre Gier nach dem Beutegut gar nicht mehr mit dem teuflischen Werk der Nazis.

Die authentische Reise bleibt bis zuletzt höchst überraschend. Kaiser lamentiert selber, es wäre einfacher, wenn er einen Roman anstatt eines nonfiktionalen Buches schreiben würde. Doch um das Ende braucht er sich eigentlich keine Sorgen zu machen, das ist eines Krimis würdig.

Fazit
Ganz anders als übliche Sachbücher oder Romane über Nachforschungen der Holocaust-Vergangenheit der Vorfahren kommt dieses Buch daher. Es zeichnet sich durch seine frische Herangehensweise, seine bedeutungsvolle Suche und faszinierende Blicke auf Örtlichkeiten aus.

Das deutsche Cover finde ich deshalb sehr gelungen. Was für ein alltägliches, vom jahrzehntelange Gebrauch gezeichnetes Objekt ist übrig geblieben. Doch man kann es fast greifen und die Spuren verfolgen, wenn man sich auf den Weg macht.

Der englische Titel verrät schon ein bisschen mehr von der Vielschichtigkeit dieses Buches: "Plunder. A memoir of Family Property and Nazi Treasure".

Mir gefielen die klare unsentimentale Sprache und die ganz persönliche Offenheit des Autors. Mit diesem Duktus konnte er sich dem Wirrwarr aus Geschichte und Narrativen, Wahrheit und Mythos, Erinnerungen und Verlorenem stellen. Diese Haltung eröffnet ganz unerwartete Perspektiven auf die Geschichte der Familie, die Zeit des Holocausts und den fragwürdigen Umgang mit den Relikten.

Kaisers Buch geht einem sehr nahe und klingt lange nach.