Der Erinnerungstourist

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amara5 Avatar

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Mit seinem Debüt „Kajzer“ geht der kanadische Journalist und Autor Menachem Kaiser auf komplexe, persönliche und tiefgreifende Suche nach seiner Familiengeschichte und einem von den Nationalsozialisten enteigneten Haus in Sosnowiec im heutigen Polen. Dabei öffnet Kaiser Stück für Stück das packende Abenteuer der Erinnerung und des Erzählens, denn seine mit vielen Überraschungen gespickte Suche verläuft verschlungen und es ergeben sich immer weitere Geschichten hinter der eigentlichen Erzählung, die zu einem facettenreichen und packenden Gesamtnarrativ werden.

Menachem hat seinen Großvater, der als Einziger seiner Familie den Holocaust überlebt hat, durch dessen frühen Tod nie kennengelernt und auch mit seinem Vater wurde nie über die Geschichte gesprochen. Nur ein enteignetes Haus in Schlesien bleibt noch als symbolische Tür zur Erinnerung – jahrelang hat der Großvater darum gekämpft, das Eigentum zurückzubekommen, ist aber gescheitert. Nun macht sich Enkel Menachem mit Hilfe einer Anwältin als sogenannter Erinnerungstourist auf die abenteuerreiche Spurensuche des jüdischen Erbes seiner Ahnen in Polen und entdeckt dabei im Dickicht von unerwarteten Begegnungen, Bürokratie, Unausgesprochenem und weiteren historischen Plündereien sowie Mysterien viele weitere Geschichten und sogar einen unbekannten Verwandten, über die der Autor brillant reflektiert. Der Cousin seines Großvaters, Abraham Kajzer, war Holocaust-Überlebender und ein so faszinierender Vorfahre mit hinterlassenen Memoir-Aufzeichnungen, dass er Menachem zu einer eigenen Geschichte verknüpft, mit den Gemeinsamkeiten der Schatzsucher inspiriert. Dabei trifft er auch auf ominöse Verschwörungstheorien, die an Aktualität in der heutigen Zeit nicht an Brisanz verlieren und mündet schließlich in einer Erzählung des Verlustes, hinterfragt stets sein eigenes Handeln.

In vier Teilen erstreckt sich Menachems bewegende Suche über mehrere Jahre – trotz sehr ernstem Hintergrund erzählt der Autor mit satirisch-lakonischem Humor und spricht seine Leser*innen zwischendurch persönlich an, was seine klugen Gedanken zu Erbe, Erinnerungskultur, Familie und Verstrickungen sowie das Geschichtenerzählen an sich noch eindringlicher machen. Dabei webt er historische Eckpunkte, aber auch zahlreiche weitere Gedankengänge wie über Schatzsucher untertage in einem immensen Tunnelsystem ein.

Manchmal ergeben sich dadurch leichte Längen, aber insgesamt sind Kaisers Erkenntnisse ergreifend, philosophisch und scharfsinnig – kreisen sie über die menschliche Existenz und die Fähigkeit, sich durch Erinnerung und Familienerbe seine eigene, verschlungene Erzählung über das Leben zu erschaffen. Und hinter allem schwingt subtil das kollektive Traumata der Shoah mit. Ein nicht ganz einfaches, aber sehr kluges Sachbuch mit vielen Querverweisen und vielschichtigen Denkanstößen.

„Doch die meisten Geschichten in den meisten Familien sind nicht als Bewahrung von harten Fakten gedacht, oder man verlässt sich nicht darauf, sie sind als Bewahrung von weichen Fakten gedacht, von Gefühl, Narrativ, Identität, wer jemand war, und in der Folge, wer du bist. Sie erzählen keine historische Wahrheit, sondern eine emotionale Wahrheit.“ S. 204