Die Wichtigkeit des Narrativs

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frischelandluft Avatar

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Während meines Studiums in den 90ern habe ich viele Autobiographien von Überlebenden des Holocaust gelesen und erforscht. Es ist für mich sehr interessant, jetzt das Dokument eines Enkels zu lesen. Die Themen Erinnerung und Vergessen spielen hier eine andere, nicht mehr so unmittelbare, aber nicht minder wichtige Rolle. Umso wichtiger als offener Antisemitismus zunimmt.

Kaiser lässt uns teilhaben an seinem Projekt, die Immobilie der Familie in Polen zurückzufordern. Der Prozess zieht sich über Jahre hin und beinhaltet den bürokratisch gerichtlichen Teil ebenso wie die Kenntnisse und Erkenntnisse Kaisers. Das Haus selber, der Auslöser der Odyssee, rückt dabei mehr und mehr in den Hintergrund. Im Zuge der Nachforschungen und Begegnungen gewinnt und verliert Kaiser Informationen über seine Familie und über den tatsächlichen und moralisch-ethischen Umgang mit Erinnerungen, Orten, Mythen. Der Prozess selber wird zum Gegenstand, der Weg wird zum Ziel.

Das wichtigste, am meisten verwendete Wort scheint mir “Narrativ”. Das Narrativ, die Geschichte um eine Person, um ein Haus, um ein Geschehen, ist das, was ihm Bedeutung verleiht. Ohne Narrativ ist alles bedeutungslos. Kaiser unterscheidet persönliche und gesellschaftliche Narrative, die in Wechselwirkung zueinander stehen. Spannend sind die Momente, in denen sie kollidieren, hier passiert etwas. Kaiser konstruiert und destruiert ständig Narrative. Er sucht sein eigenes als Fortsetzung des Familiennarrativs, das durch den Holocaust unterbrochen wurde, “aber es kann keine Vollendung, Erlösung, Katharsis geben, denn unsere Geschichten sind keine Erweiterung der Geschichten unserer Großeltern, keine Fortsetzung. Wir setzen ihre Geschichten nicht fort; wir handeln danach. Wir sprechen heilig, und wir plündern.” (S. 301). Für Kaiser gehört der Schreibprozess zu seinem Narrativ und so teilt er mit dem Buch sein persönliches Narrativ, das auch seinen Großvater, die im Holocaust ermordete Familie und andere, neu entdeckte Familienmitglieder verbindet. Aus der “Geschichte einer Rückforderung” wird eine “Geschichte des Verlusts”.

Das Buch ist mehr Sachbuch, als ich erwartet hatte. Kaiser hat bewusst das Genre Sachbuch gegenüber dem fiktionalisierenden Roman gewählt. Der Schreibstil ist klug, fließt manchmal etwas mühsam durch rasche Wechsel zwischen den Beschreibungen seiner Reisen und Begegnungen und seinen eher philosophischen Erkenntnissprozessen. Aber so sind wir drin in der Gedankenwelt Kaisers, lernen scheinbar simultan mit ihm, warum er das Haus zurückforderte und was es für seine Einstellung zu Leben, Familie und Historie bedeutet. Ein intensives Buch, das zeigt, wie wichtig die Aufklärung der Vergangenheit auch für unsere jüngeren Generationen ist.