Ein sehr spezielles Erinnerungsbuch

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merkurina Avatar

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Schnell wurde mir klar, dass dieses Buch meinen Erwartungen zuwiderläuft. Ich hatte mir einen zusammenhängenderen Text, eine geschlossenere und auch lockere, ja in gewisser Weise unterhaltsamere Erzählweise vorgestellt: Von einem, der auszog, die Vergangenheit ... und aus amerikanischer Sicht: das alte Europa ... zu erforschen.
Denn genau das tat der Autor ja und legt ein etwas dekonstruktivistisches Buch vor, das von Auslassungen lebt. Er, der Autor, zeigt sich weniger als Planender und Handelnder, auch nicht als Abenteurer, wie der unpassende Untertitel nahelegt, sondern vor allem in Überlegungen und Empfindungen, die er seinem Planen und Handeln und seinen zahlreichen verblüffenden Entdeckungen beigesellt. (Dass das Buch sich in der deutschen Übersetzung "Sachbuch" nennt, ist natürlich ganz falsch - vielleicht auch ein Übersetzungsfehler. Non-Fiction vielleicht, da der Autor vielleicht darauf besteht, alles genauso erlebt zu haben, aber im Buch mischen sich munter verschiedene Textarten, Berichtsorten, Autofiktionales - kurz und gut, es ist Literatur!)
Ich tat mir anfangs durchaus schwer mit dem Lesen, gerade Kapitel 2 über "Der Riese", die Schatzsucher und die Mythen, war mir so fremd und unerwartet, dass es mich sehr beanspruchte und ich auch die eine oder andere Seite nur quer las. Erst mit der Zeit und erst Recht vom Ende des Buches her, erschließen sich Zusammenhänge, zeigt sich auch, wie wohlkomponiert dieses Buch ist. Wie schwierig und widersprüchlich die Erinnerungen und die Erzählungen sind, das zeigt sich auch. Verblüffend ... und zugleich kennt man das ja selbst, je älter man wird, umso mehr und je mehr es zu erinnern gibt mit mehreren Personen gemeinsam.
Die gesamte politische und historische Bandbreite des Buches zu skizzieren, sprengte diese Rezension. Es zeigt sich ein neuer Blick auf die jüdische Geschichte, eng verquickt mit der europäischen, ein neuer Blick auf die Erfahrungen der Generationen im und seit dem 2. Weltkrieg. Die entsetzlichen Gräuel des Nationalsozialismus spielen immer noch eine große Rolle - und an manchen Stellen im Buch stockte mir der Atem. An einer Stelle schreibt der Autor, dass die Aufzeichnungen Holocaust-Überlebender nach dem Krieg erschreckenderweise geradezu eine Art Genre wurden, da sie einander ähnelten, was sonst - und störend auch in vielerlei Hinsicht, da das Beschriebene eben unfassbar ist und bleibt.
In den vergangenen Tagen habe ich auf der Frankfurter Buchmesse dankbar erlebt, wie differenziert, lebendig, warmherzig und klug Erinnerungsarbeit heute ist - bei Dana Vowinckel bis Lizzie Doron. Vor dem Hintergrund des 7. Oktober 2023 und allem, was damit zusammenhängt, blättert sich dieser Tage der Kontext aus Schuld und Scham, tief in die deutsche Geschichte versenkt, wieder auf. Es gibt Menschen, die auf kluge und achtsame Weise nachdenken und dabei auch vergeben, ich zähle nun Menachem Kaiser unbedingt dazu.