Eine Herausforderung

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martinabade Avatar

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Menachem Kaiser hat ein Buch geschrieben. Und weil er ein junger Wilder ist, muss er auf gar keine Regel achten. Über den Autor, seinen Hintergrund und seine Motivationen erfährt man mehr aus einem Interview, das der österreichische Standard am 7. Oktober 23 veröffentlichte (https://kurier.at/kultur/buch/menachem-kaiser-ueber-die-obsession-mit-nazi-geheimnissen/402604277).

Darin erleben wir einen jungen Menschen, Jahrgang 1985, der sehr entspannt, scheinbar wenig zielgerichtet und gerade zu ruckartig aus seiner Familiengeschichte berichtet. So wie Kaiser durch das Leben treibt, treibt der Stoff auch durch sein erstes Buch. Das ist für eine Leserin, die in „der Nation der Dichter und Denker“ in eine Rezeptionskultur und -geschichte eingeführt und auf diese geprägt wurde, eine ganz schöne Herausforderung. Weder geht die Causa stringent noch irgendwie logisch vonstatten. Was als Autofiction oder Biopic beginnt, müht sich bald, ein Sachbuch zu werden, um dann in eine Reihe geschwätziger Essays abzuschweifen, und das ist dann spätestens der Punkt, an dem Kaiser sich selbst fragt, ob er wohl gerade in einer soziologischen oder historischen Abhandlung sei. Der Autor hat kreatives Schreiben an der University of Michigan studiert, und zumindest das mit dem Kreativen scheint gelungen.

Steht man über diesen Ärgerlichkeiten, kann man sich selbst eine sehr interessante, wenn auch partiell aus dem Märchenreich zu stammen scheinende Geschichte zusammenbasteln. Als Kind fährt Menachem einmal im Jahr mit seinem Vater an das Grab des Opas. Nur an diesem Tag, niemals sonst, spricht dieser über seinen Vater. Einmal, ganz unvermittelt, erzählt der Vater, dass der Großvater lange Jahre seines Lebens nach dem Zweiten Weltkrieg in Kanada damit verbracht habe, das Haus der Familie in einem kleinen polnischen Ort namens Sosnowiec, zurück zu erhalten. Recherchiert hat der alte Herr, nach Papieren und Fotos. Als der Enkel zufällig in Polen ist, fährt er spontan nach Sosnowiec. Doch auf dem Grundstück, auf dem das alte Haus stehen soll, steht ein Mietshaus, das ganz offensichtlich nach dem Zweiten Weltkrieg erbaut wurde. Wenn man sich davon verabschiedet hat, eine irgendwie konsistente Handlung lesen zu können, egal ob erfunden oder historisch sauber recherchiert, dann hat der Text einzelne lesenswerte Blitzlichter.

Mit Freunden zusammen, sie geben vor, für ein Filmprojekt zu arbeiten, betritt Menachem das vermeintliche Haus des Großvaters und spricht mit einzelnen Bewohnern. Irgendwann später gibt es eine Passage, in der der Autor sich damit auseinandersetzt, wie es wohl sei, wenn man als Jude, dessen große Familie, selbst enteignet, deportiert und ermordet wurde, nun Jahrzehnte nach dem Holocaust in der Rolle der Enteigner wieder auf den Plan der Geschichte tritt.

Herrlich böse das Zusammentreffen des Autors samt juristischer Entourage mit verschiedenen polnischen Gerichten. Wäre das Thema nicht so emotional, könnte der Leser sich fast amüsieren. Jahre dauert es, und den Gang durch verschiedene Instanzen, bis klar wird, dass die polnische Gerichtsbarkeit sich nicht dazu durchringen kann zu erklären, dass Menachems Angehörige tot seien. Es gäbe schließlich Überlebende des Holocaust und keine Zeugenaussagen über das Sterben der Personen. „Wäre es bloß eine Überschwemmung gewesen, sagte ich zu meinem Vater. Dann wären sie tot.“

Der Autor findet durch Zufall die Spuren des Bruders seines Großvaters, der in Polen als Schatzgräber zu einer gewissen Bekanntheit gekommen ist. Großonkel Abraham Kajzer führt uns in die Relikte des Projektes "Riese", ein Bauwerk der Nazis, unterirdisch in der polnischen Natur, zum einen touristisch erschlossen, zum anderen verborgen im Untergrund. Vor allem aber: Ort der Präsentation von allerlei Schatzgut und Nazinippes. Und eine regelrechte Schatzsucher-Industrie. Das alles bleibt leider vollkommen unreflektiert. Hier wäre deutlich mehr Potential gewesen, aber: vielleicht im nächsten Buch.