Spurensuche im Labyrinth

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Alles beginnt mit einer Adresse: Malachiwskiego 12 in Sosnowiec in Polen. Dieses Haus besaß der Urgroßvater von Menachem Kaiser vor dem Krieg, sein Großvater sei dort aufgewachsen, erzählte ihm sein Vater. Dieser Großvater hatte als einziger seiner Familie den Holocaust überlebt, er zog nach dem Krieg erst nach Deutschland, dann nach New York und später nach Toronto, wo er acht Jahre vor der Geburt des Autors starb. Dieser wächst in einer jüdisch-orthodoxen Familie auf, fast alle Menschen um ihn herum sind Nachkommen von Überlebenden, und vielleicht deshalb ist ihm das Schicksal seiner Familie zwar bewusst, ohne dass er sich allzu sehr für Details interessiert hätte. Erst eine Reise nach Polen ändert das, er fährt in den Geburtstort des Großvaters und beginnt zu recherchieren, was aus dem Haus geworden ist. Und hier beginnt die Geschichte skurril zu werden und, durchaus gewollt, ein wenig zu zerfasern. Um die Restitution voranzutreiben, engagiert Kaiser eine polnische Anwältin, die als „die Killerin“ bekannt ist, denn ohne Polnischkenntnisse hätte er kaum Chancen vor Gericht. Wir erfahren von den Irrungen und Wirrungen der polnischen Bürokratie und von den Reflexionen des Autors bezüglich der Sinnhaftigkeit seines Unterfangens: „Mir begegnete eine Menge Ambivalenz, Skepsis, Kritik. Das war besonders in Polen der Fall, wo die Kosten und Konsequenzen des Kriegs so viel unmittelbarer sind, die Narrative so viel unsauberer.“ Daneben entwickelt sich durch eine Zufallsbegegnung noch ein weiterer Erzählstrang, denn Kaiser lernt eine Gruppe von Schatzjägern kennen, die in den unterirdischen Tunneln des Projekts Riese nach Nazi-Artefakten suchen.

Riese ist ein unfassbar großes und nur in Teilen erforschtes Tunnelsystem in Schlesien, das die Nazis durch KZ-Insassen bauen ließen und dessen Zweck Rätsel aufgibt und daher zu Verschwörungstheorien einlädt. Unter den Schatzsuchern kursieren die wildesten Gerüchte, unter anderem vermuten einige einen versteckten Goldzug oder gar das Bernsteinzimmer in den schlesischen Tunneln. Als sich dann noch herausstellt, dass einer der Gefangenen, der nach dem Krieg eine sehr detaillierte Schilderung seiner Zwangsarbeit im Projekt Riese veröffentlicht hat, ein entfernter Verwandter des Autors ist, vermischen sich beide Erzählstränge.
Kaiser hat eine sehr mäandernde Familiengeschichte geschrieben, die von der Skurrilität der verschiedenen Situationen lebt. Ich bin ihm durchaus gern gefolgt, auch wenn ich ab und zu den roten Faden vermisst habe und denke, dass dem Buch hier und da eine Straffung gutgetan hätte, da der Autor eine Neigung zu Wiederholungen zeigt, gern wird zum Beispiel ein Begriff in dreifacher Varianz eingefügt. Das muss man mögen, trotzdem habe ich viel gelernt, und Bücher, die die eigene Familiengeschichte reflektieren und dazu noch zu weiteren Recherchen einladen, mag ich grundsätzlich sehr gern.