Verschlungene Spurensuche

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Menachem Kaiser „ Kajzer“ ( 2021/ 2023 )

Menachem Kaiser, Jahrgang 1985, Nachkomme polnischer Juden, ist in Toronto aufgewachsen und lebt heute als Schriftsteller in New York. Für sein erstes Buch „Kajzer“ , im Original unter dem Titel „ Plunder. A Memoir of Family Property And Nazi Treasure“ ( „ Plünderung. Ein Memoir über Familienbesitz und Nazi - Schätze“ ) erschienen, erhielt der Autor den Sami- Rohr- Preis für jüdische Literatur.
Während einer Reise nach Polen 2010 beschließt Kaiser spontan Sosnowiec aufzusuchen, den Heimatort seines Großvaters. Von seinem Großvater wusste er nur, dass er der Einzige aus seiner Familie gewesen sein soll, der die Shoa überlebt hat. Selbst kennengelernt hatte er ihn nie, da dieser einige Jahre vor seiner Geburt gestorben war.
Wie einer von vielen „Erinnerungstouristen“ besucht Menachem Kaiser also Sosnowiec, findet aber kein malerisches Schtetl vor, sondern „ eine trostlose postindustrielle Stadt“.
Da ahnt der Autor noch nicht, dass er wieder hierher zurückkehren würde, um den Kampf seines Großvaters um die Rückerhaltung einer im Familienbesitz stammenden Immobilie weiterzuführen. Was als Projekt zur Restitution beginnt, entwickelt sich zu einer verschlungenen Reise nach der eigenen Familiengeschichte. Von dieser Suche, die keineswegs geradlinig verläuft, sondern mit vielen Missverständnissen, falschen Spuren und unwahrscheinlichen Zufällen gespickt ist, erzählt dieses Buch. Sie dauert einige Jahre und am Ende hat Menachem Kaiser zwar nicht sein ursprüngliches Ziel erreicht, dafür ist er um viele Erfahrungen, Begegnungen und Erkenntnissen reicher geworden.
Kaiser reist nun oft nach Schlesien, erkundet sehr genau das besagte Haus, das seinen Vorfahren gehört hat, lernt die jetzigen Bewohner kennen und hat denen gegenüber ein ungutes Gefühl. Um sehr viel später zu erfahren, dass es sich um das falsche Haus gehandelt hat.
Bei seinem Kampf um das Familieneigentum macht er Bekanntschaft mit den Mühlen des polnischen Rechtssystems. Um den Anspruch seiner Familie auf die Immobilie geltend machen zu können, muss er erstmal gerichtlich nachweisen, dass der frühere Besitzer, also der Urgroßvater und seine Nachkommen tot sind. Für ihren Tod während des Krieges gibt es allerdings keine Dokumente. Aber auch wenn sie Deportation und Lager überlebt hätten, wofür es keine Beweise gab, wären sie mittlerweile verstorben. Man fühlt sich an Kafka erinnert, während man von dem mühseligen Prozessverfahren in Polen liest.
Bei seinen Nachforschungen erfährt der Autor zwar kaum etwas über seinen Großvater und dessen Eltern, dafür stößt er auf einen bisher unbekannten Cousin seines Großvaters. Dieser, ein gewisser Abraham Kayzer hat als jüdischer Zwangsarbeiter am Projekt Riese mitgearbeitet und darüber ein Tagebuch geschrieben. Vom Projekt Riese hatte ich zuvor noch nie gehört. Es bezeichnet ein gigantisches Bauvorhaben der Nazis, ein riesiger Komplex unterirdischer kilometerlanger Stollen im schlesischen Eulengebirge. Wozu diese Anlage dienen sollte, darüber herrscht noch keine endgültige Klarheit. Ob sie als Führerhauptquartier gedacht waren oder als Labore für Wunderwaffen oder als Versteck für erbeutete Schätze? Spekulationen gibt es zuhauf. Heute ist es Ziel von „ Schatzsuchern“, polnischen Männern und Frauen, die auf der Suche nach Nazi-Souvenirs oder Schätzen unterwegs sind. Auf eine solche Gruppe stößt Menachem Kaiser bei seinen Recherchen und die wiederum führen ihn zu seinem unbekannten Verwandten. Dessen Lagertagebuch gilt als „ Bibel“ der Schatzsucher und Abraham Kayser als mythische Figur bei ihnen.
Das Buch ist voll von solchen unglaublichen Begegnungen und Wendungen.
Daneben reflektiert der Autor aber beständig sein eigenes Tun. Was bedeutet die Rückforderung gestohlenen Eigentums? Wie kann historisches Unrecht korrigiert werden und kann es das überhaupt? Besteht unser Erbe nicht eher aus immateriellen Werten und ist der Verlust von familieneigenen Traditionen nicht ein viel größerer als der eines Hauses?
„ Kajzer“ ist auch ein Buch über Erinnerung. „ Familiengeschichten sind schlechte Geschichtsbewahrer: Sie sind bruchstückhaft, schlecht dokumentiert, verzerrt durch Hörensagen, Annahmen, Legenden…Sie erzählen keine historische Wahrheit, sondern eine emotionale Wahrheit.“
Darüber schreibt Menachem Kaiser klug, sachlich und reflektiert, sehr ehrlich auch sich selbst gegenüber. Er wechselt zwischen Schilderungen und philosophischen Überlegungen. Dabei hätte die eine oder andere Abschweifung etwas kürzer ausfallen dürfen. Die Passagen, bei denen er aus dem Tagebuch seines neu entdeckten Verwandten zitiert, sind dagegen sehr berührend.
„ Kajzer“ ist ein sehr persönliches Erinnerungsbuch, das neue Perspektiven und Denkanstöße liefert.