Hinter der Küchengardine

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aennie Avatar

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Hinter der Gardine, im handtuchgroßen Garten – eine typische Siedlung Mitte der 1980er Jahre. Die Muttis projizieren ihre Wünsche und Sehnsüchte auf ihre Kinder, ihre eigene Verwirklichung und Neid gegenüber den Nachbarinnen. Analysieren das eigene und das fremde Eheleben, ihre Kinder und die Kinder der anderen, die Erziehungsstile und auch alles andere sonst. Die Männer sind arbeitenderweise abwesend und in manchem Fall ist das wohl auch ganz gut so. Die Kinder sind volleingespannt in Ballett, Cellounterricht und Intelligenztests. Eifersüchteleien sind in allen Generationen heftig vertreten, wobei eigentlich gar niemand heile Welt spielen möchte, dass hier einiges im Argen liegt ist gar kein Geheimnis, nur das Ausmaß der Problematik und die Tiefe der Gräben spricht keiner aus. Zumindest nicht laut – denn was die einzelnen Bewohner denken über sich selbst und alle anderen – das wird dem Leser von der ersten Seite an unverblümt offenbart.

Denn „Kampsterne“ besticht durch die ständigen Perspektivwechsel und seine Sprache, die dem Leser die Gedanken- und Gefühlswelt der verschiedenen Personen näherbringt, egal ob Mann, Frau, Jugendlicher oder Kind. Die ganz subjektive Sichtweise auf sich selbst auf die anderen, deren Aussagen und deren Taten wird so in einer unmittelbaren Direktheit vermittelt – wie wörtliche Rede. Es gibt keinen übergeordneten Erzähler, keine Rahmenhandlung, keine Hintergründe, alles erschließt sich aus den schlaglichtartigen „Statements“ aller, gleichzeitig und ungefiltert. Und trotzdem steckt ganz viel Hintergrund in diesen Gedanken – vor allem jenen der Frauen, die in der Mehrzahl nach ihren geisteswissenschaftlichen, nicht zwingend in Berufe mündenden und vor allem auf das wahre Leben nicht vorbereitenden Universitätsstudien der Kunstgeschichte oder der Kulturwissenschaft doch alle noch in der gleichen Hausfrauen- und Mutterrolle gelandet sind wie die vorherige Generation. Und auch wenn sie sich dieses Missverhältnisses bewusst sind und insgeheim Feministinnen, Philosophinnen oder einfach nur unabhängige Frauen sein möchten, verharren sie in diesem Ist-Zustand und streben nach anderweitiger Verwirklichung, durch Hobbys – oder eben ihre Kinder bzw. deren Förderung. Sie streben zum einen nach der Perfektionierung der Folgegeneration – durch das Erlernen von Instrumenten, gesteuerte Freizeitaktivitäten, Sozialkontakte, die aber in der Quintessenz nur zum Ausdruck bringen, wie unzufrieden man mit sich selbst ist. Zum anderen möchte man sich selbst in die geschützte Zone „Kindheit“ zurückretten, ohne Sorgen, ohne Ehekonflikte, ohne nervige Nachbarinnen, zu denen man in ständiger Konkurrenz steht. Als das geschönte Bild plötzlich Risse bekommt, offenbart sich der wirklich desolate Zustand der einzelnen Personen und ihrer Familien-Konstrukte. Die Kinder, mal Spielball der Interessen, mal aufbegehrende, werdende Persönlichkeiten, die sich dem wahnwitzigen Tun und den Absichten ihrer Eltern vollauf bewusst sind, stellen den zweiten Schwerpunkt der kurzen Episoden dar, und vor allem in ihrer emotionalen Verwirrung aber auch ihrer Abgeklärtheit – mit Nervenzusammenbrüchen kennen wir uns aus – machen deutlich, was das verquere Handeln der Erwachsenen für sie ganz direkt bedeutet. Die mit Abstand kleinste, leiseste Stimme erhalten die Ehemänner, die aber aus Sicht der Ehefrauen und Nachbarinnen nichts taugen und mehrheitlich aus Sicht der Kinder “ohnehin immer nicht da sind“, und im Wesentlichen muss man da als Leser auch zustimmen.
Fazit: Im Endeffekt weiß ich gar nicht, wie ich dieses Buch einordnen soll. Es liest sich interessant – im Sinne einer Zeit- und Sozialstudie, ein unterhaltsamer Roman ist es für mich nicht. Thematisch sind da auch einfach zu viele wirklich herbe Details in Richtung häusliche Gewalt, Vergewaltigung etc. enthalten, die das Buch weit weg von harmlos rücken. Einen Sympathieträger außer Johannes und Alexa habe ich nicht finden können, und die sind 15 und 8 Jahre alt – andererseits spiegelt das ja Zuversicht in die nächste Generation wider. Die Unmittelbarkeit der Gedankenwelten haben mir als Stilmittel aber unglaublich gut gefallen, so dass ich die Stärke des Buches eindeutig im Stil ansiedeln möchte, und da das irgendwie in die Kategorie literarische Qualität geht, gibt das den Ausschlag für meine Bewertung mit 5 Sternen – 4,5 wären ideal.