Großartiger Familienroman über fast fünf Jahrzehnte

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Die Hardfacts hat Elizabeth Graver der Familiengeschichte ihrer Großmutter Rebecca Baruch Levy (1902-1991) entnommen. Die Softfacts wie z.B. das Innenleben der Protagonisten entspringen der Fantasie der Autorin. „Ich habe historische Ereignisse, Familiengeschichten und Fotografien eingeflochten, aber auch Fakten geändert und bei jeder Gelegenheit frei erfunden.“ (S. 361) Um es kurz zu machen: Diese Kombination ist der Autorin hervorragend gelungen, „Kantika“ ist eine wahre Lesefreude!

Rebecca Cohens Leben beginnt in Konstantinopel. Ihre Familie ist jüdischen Glaubens, stammt zwar ursprünglich aus Spanien, hat sich aber am Bosporus bestens assimiliert, so dass sie sich türkisch fühlt. Vater Alberto genießt seinen ererbten Wohlstand und das Ansehen, das er in der Stadt genießt. Leider lassen seine Fähigkeiten als vorausschauender Geschäftsmann zu wünschen übrig, so dass sich das Familienvermögen kontinuierlich reduziert. Die Autorin zeichnet ein sorgloses, fröhliches Leben dieser Kinderjahre in einer Stadt, die viele Religionen und Nationalitäten beherbergt und sich durch hohe Toleranz auszeichnet.

Doch die politischen und wirtschaftlichen Verhältnisse ändern sich. Zahlreiche Juden verlassen Anfang der 1920er Jahre das Land, die meisten in Richtung USA. Diese Möglichkeit hat Familie Cohen nicht mehr. Ihre Firma wurde enteignet, das verbliebene Vermögen lässt keine großen Sprünge zu. Man ist auf internationale jüdische Hilfe angewiesen, Vater Alberto fühlt sich als Bittsteller, als er sich schließlich dazu durchringt, eine Stelle als Schammes in einer kleinen Synagoge in Barcelona anzunehmen. Der Umzug bringt zahlreiche Veränderungen mit sich, die die Familienmitglieder sehr unterschiedlich empfinden. Rebecca ist eine Kämpferin. Sie jammert nicht, sondern passt sich an und baut sich als Schneiderin eine Existenz auf. Um nicht als alte Jungfer zu enden, heiratet sie auf Anraten ihrer konservativen Eltern den undurchsichtigen Luis, der nicht hält, was sich Rebecca von ihm versprochen hat. Das weitere Leben meint es nicht immer gut mit dieser selbstbewussten, eigenständigen Frau, deren Tradition es verlangt, sich dem Ehemann unterzuordnen. Es gibt weitere dramatische Entwicklungen, bevor sie 1934 schließlich in die USA einreisen kann, wo ein völlig neuer Lebensabschnitt beginnt.

Elizabeth Graver hat ihren Vorfahren Leben eingehaucht. Sie erzählt chronologisch, wechselt dabei aber laufend die Erzählperspektiven, die die Handlung vorantreiben. Kurze Vorschauen erhöhen die Spannung, sensibilisieren und geben dem Text immer wieder neue Aspekte. Die Autorin lässt uns ihre Protagonisten hautnah erleben. Eine Fülle von unterschiedlichen Episoden, Gedanken und Erlebnissen bringen sie uns näher. Jeden einzelnen Charakter lernt man in seiner Vielschichtigkeit kennen, was ihnen einen hohen Grad an Authentizität verleiht. Ebenso viel Sorgfalt wendet Graver für die Gestaltung ihrer Schauplätze auf. Man kann sich die verschiedenen Orte mit ihren Besonderheiten bestens vorstellen. Zudem werden das jeweilige Zeitkolorit, die Bedingungen, unter denen die Menschen leben, in die Handlung eingeflochten. Dasselbe gilt für menschliche Interaktionen und Konflikte. Sämtliche Szenen und Dialoge wirken realistisch und echt, ebenso wie großfamiliäre Verstrickungen. Im Mittelpunkt steht immer Rebecca. Auch wenn wir gegen Ende des Romans einen Ausflug in den zweiten Weltkrieg machen, bleibt die politische Großwetterlage doch weitgehend außen vor.
„Kantika“ ist ein großartiger Familienroman mit einer Frau im Zentrum, die sich im Rahmen ihrer Möglichkeiten zu behaupten weiß. Anfangs braucht man etwas Konzentration, um das Figurenkarussell zu sortieren. Bereits im zweiten Kapitel ist man aber angekommen.

Elizabeth Graver erzählt eine Familiengeschichte über rund fünf Jahrzehnte, die genau so hätte stattfinden können. Die Fotografien zu Beginn jedes Kapitels legen das sogar nahe. Die Perspektivwechsel geben den einzelnen Figuren umfassende Konturen. Höhen und Tiefen dieser jüdischen Familie werden fesselnd erzählt, ohne je in Gefühligkeit oder Larmoyanz abzugleiten. Auch individuelle Fehler und Fehlentscheidungen werden nicht ausgespart. Das Ganze wird stilistisch ansprechend in einer kurzweiligen Prosa vorgetragen. Elizabeth Graver hat sich seit ihrem letzten Roman „Der Sommer der Porters“ (2016) enorm gesteigert.

Tolle Erzählkunst! Dafür eine riesengroße Leseempfehlung und fünf hellglänzende Sterne!