Kantikas sind Gesänge die das Leben begleiten

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kleine hexe Avatar

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Es sind die Erinnerungen an eine schöne, sorglose Kindheit und an eine Zeit, die so nie wiederkehren wird, die mich zu Anfang fasziniert haben. Sie ließen mich an meine Großmutter denken, die in einer anderen, ebenfalls kosmopolitischen Stadt aufwuchs und in einer ähnlichen Atmosphäre. Da wohnten Menschen unterschiedlicher Religionen und Zugehörigkeit friedlich beisammen, man handelte untereinander und ins Ausland, man half sich gegenseitig, das Motto lautete “Leben und Leben lassen”. Und genauso war es in Istanbul, bis die Politik sich überall einmischte, bis in die privatesten Belange der Menschen. Zuerst verschwanden die Armenier, dann die Griechen, und dann kamen die Juden ran. Es entstand eine Atmosphäre des Hasses, gegen alles, was nicht türkisch war. Die Partei der “Jungen Türken” sorgte dafür. So kam es, dass Rebecca mit ihrer Familie nach Barcelona fliehen musste.
Aber Barcelona liegt in Spanien. Rachels Familie sind Sepharden. Vor 400 Jahren wurden sie aus Spanien brutal vertrieben und der Schock dieser Vertreibung sitzt der Familie immer noch in der Seele. Nach 400 Jahren und so vielen Generationen, ist die Angst vor Spanien eigentlich noch allgegenwärtig. Die wenigen Juden, die nach Spanien kommen, verhalten sich ängstlich, möglichst unauffällig, leben zurückgezogen. Nicht einmal einen Wegweiser zur Synagoge wagen sie aufzustellen. Als Rebecca jung verwitwet und mit zwei kleinen Jungen nach New York aufbricht, betritt sie, ähnlich wie in Barcelona, eine neue Welt. Sie lernt die Sprache, baut sich eine eigene gut gehende Schneiderei auf, kümmert sich um ihre Söhne und um die behinderte Tochter ihres Mannes. Luna hat eine Zerebralparese. An diesem Kind vollbringt Rebecca ein Wunder, sie bringt das Mädchen so weit, dass sie allein gehen kann, sich allein versorgen kann, einen guten Schulabschluss macht und später eine gute Arbeit findet und auch heiratet. Ohne Rebecca wäre Luna nur dahin gesiecht, ein gequälter Mensch den anderen nur eine Last.
Das sind die Stationen in Rebeccas Leben. Spektakulär? Ja und nein. Flucht aus Istanbul, Leben in einer zunehmend feindlichen Umgebung, die Auswanderung in die Staaten und Heirat mit einem unbekannten Mann, dessen Familie ihr zuerst feindlich gegenübersteht. Es ist keine leichte Aufgabe, ein schwerst behindertes Kind zu fördern und zu fordern, in einer Zeit, in der man die modernen Methoden der Betreuung dieser Menschen nicht kannte. Rebecca lässt sich nicht beirren, weder von Schwiegermutter oder Schwägerin, noch von dem Widerstand des Kindes. Und ja, das ist in der Tat spektakulär. “Luna ist schwanger. Es hieß, sie könne nicht laufen, und mit Rebeccas Hilfe lernte sie laufen, und dann hieß es, sie könne nicht zur Schule gehen, und mit Rebeccas Hilfe ging sie zur Schule, und dann hieß es … dass sie nie heiraten würde, doch Rebecca ließ sie Gegenstände für ihre Aussteuer nähen, weil es gut für ihre Hände war und weil … auch die Geringsten unter uns hoffen dürfen und Luna traf Gene” (S. 357)
Kantika ist ein jüdisch-ladinisches Lied, die Worte sind teils jüdisch, teils latein, die Kantikas begleiten Rachels leben, sie singt sie zum Trost oder zur Freude, sie sind Teil ihres Lebens.
Der unaufgeregte, schlichte Stil den Elizabeth Graver verwendet für dieses Buch geht zu Herzen. Man spürt die Verbundenheit der Autorin zu Rebecca, ihre Achtung vor dieser großartigen und bescheidenen Frau.