Kapital

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waldmeisterin Avatar

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Zuallererst muss man bei diesem Buch sagen, dass mal wieder der englische Titel der bessere ist. Doch dieses Mal liegt das nicht an einer zweifelhaften Marketingkampagne oder einer schrägen Übersetzung -denn der Titel wurde tatsächlich eins zu eins übernommen- sondern schlicht und ergreifend daran, dass das Wort "Capital" im Englischen eben nicht nur "Kapital" sondern auch "Hauptstadt" heißt. Und in ebendieser spielt dieser grandiose Gesellschaftsroman. In Englands Hauptstadt. In London. Genauer gesagt: in der Pepys Road. Die Häuser dieser Straße wurden ehemals für mittelständische Familien gebaut, sind aber im Laufe der Zeit zu einer hippen Wohngegend "emporgestuft" worden. Daher sind auch sehr viele Bevölkerungsschichten vertreten: Petunia, eine alte Dame, deren Vorfahren tatsächlich ihr Haus direkt vom Architekten gekauft hatten. Eine indische Familie, die einen Supermarkt betreibt und den bald bevorstehenden Besuch der in Indien lebenden Mutter fürchtet. Ein junger Afrikaner, soeben eingetroffenes Nachwuchstalent eines Premier-League-Fußballclubs, der seinem ersten 90-Minuten-Spiel entgegenfiebert. Und natürlich der erfolgreiche Banker Roger, der auf eine Bonuszahlung in Höhe von einer Million Pfund spekuliert - und diese auch dringend benötigt, um seine laufenden Kosten fürs Haus sowie die diversen Luxuswünsche seines, ja man kann wirklich schon sagen: "Weibchens" Arabella zu decken. Dann gibt es noch den polnischen Bauarbeiter Zbigniew, der alle paar Monate das Bad ebendieser Arabella in wieder mal einer anderen angesagten Farbe streichen soll, die afrikanische Politesse Quentina mit Hochschulabschluß, den Künstler Smitty, dessen größtes Geheimnis seine wahre Identität ist und einen suspekten islamischen Freund aus der Vergangenheit, der sich bei einem der Inder einnistet...
Mir hat dieses Buch sehr gut gefallen. Einerseits sind die Personen hervorragend gezeichnet, es macht einfach Spaß, ihnen bei ihrer Entwicklung, egal ob gut oder schlecht, zuzusehen. Wie eine Bekannte sagte: es ist, als ob man im Dunkeln spazieren geht und durch die hell erleuchteten Fenster die Menschen beobachtet. Andererseits bringt die Geschichte doch auch eine gewisse Gesellschaftskritik zum Ausdruck und regt zum Nachdenken an: Wie kann es sein, dass eine Frau mit Hochschulabschluss Strafzettel verteilen muss - und das auch noch illegal? Warum müssen Arbeiter nach London kommen, um dort Geld zu verdienen - soviel, wie sie in ihrem Heimatland in einem ganzen Leben nicht erwirtschaften könnten? Warum können Manche -ohne besondere Kenntnisse, deren Untergebene eigentlich die ganze Arbeit erledigen- mit Fug und Recht eine sechstellige Bonuszahlung erwarten? Das und noch vieles mehr geht mir, obwohl es schon einige Zeit her ist, dass ich das Buch fertig gelesen habe, immer noch durch den Kopf. Und das ist es, was für mich ein gutes Buch ausmacht: es regt zum Nachdenken an und hallt lange nach!