Leben in der Krise

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buecherfan.wit Avatar

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In seinem neuen Roman “Kapital” beschreibt John Lanchester das Leben einer Gruppe von Menschen, die im Südlondoner Stadtteil Clapham leben oder arbeiten. Dort liegt die fiktive Pepys Road mit ihren Häusern aus dem späten 19. Jahrhundert, die ursprünglich für die untere Mittelschicht gebaut wurden, aber jetzt überwiegend von Reichen bewohnt werden. Wer sein Haus schon lange besitzt, ist durch den Immobilienboom reich geworden, wer neu dort hinzieht, muss Millionen aufwenden.
Die älteste Bewohnerin der Straße ist die 82jährige verwitwete Petunia Howe, die einsam und schon ziemlich gebrechlich in einem seit Jahrzehnten nicht renovierten Haus lebt. Gegenüber wohnt der erfolgreiche Banker Roger Yount mit seiner verwöhnten, verschwendungssüchtigen Gattin Arabella und den beiden Söhnen Josh und Conrad. Der Fußballmanager Michael Lipton-Miller genannt Mickey hat das 17jährige senegalesische Fußballtalent Freddy Kamo mit seinem Vater Patrick in seinem Haus in der Pepys Road unterbracht und kümmert sich um den Karrierestart. Außerdem wohnt die pakistanische Familie Kamal - bestehend aus Ahmed und Rohinka mit ihren beiden Kindern und Ahmeds Brüdern Shahid und Usman - am Ende der Straße und hat dort einen Laden. Weiterhin gehören der Performance-Künstler Smitty - in Wirklichkeit Petunia Howes Enkel Graham - und der polnische Bauarbeiter Zbigniew sowie Quentina Mkfesi aus Zimbabwe zu den wichtigen Figuren des Romans. Sie lebt als abgelehnte Asylbewerberin in einer Gemeinschaftsunterkunft und hat keine Arbeitserlaubnis. Dennoch arbeitet sie illegal als Politesse und verteilt häufig Strafzettel in der Pepys Road, wo die teuren Autos verbotswidrig geparkt werden. Einen Teil ihrer Einkünfte muss sie Mittelsmann Kwame Lyons überlassen, der ihr falsche Papiere besorgt hat.
Eines Tages finden alle Anwohner eine Postkarte mit dem Text “Wir wollen, was ihr habt” sowie Fotos ihrer Häuser, später auch Videos in ihren Briefkästen. Diese Aktion wird zeitweise unterbrochen, später aggressiver mit Beleidigungen und Sachbeschädigung fortgesetzt. Die Anwohner schalten die Polizei ein, weniger weil sie sich persönlich bedroht fühlen als aus Sorge um den Wert ihrer Immobilie.
Alle diese Personen erleben im Verlauf des Romans eine persönliche Krise, und immer wieder geht es auch um Geld. Der reiche Banker rechnet zum Jahresende fest mit einem Bonus von 1 Million Pfund, den er dringend benötigt, um den aufwendigen Lebensstil seiner Familie zu finanzieren. Da er ihn nicht bekommt, droht der finanzielle Ruin und das Ende seiner schwierigen Ehe mit der egoistischen, konsumorientierten Arabella. Das attraktive ungarische Kindermädchen Matya, das eine Zeit lang für sie arbeitet, wird sich einen anderen lukrativen Job suchen müssen.
John Lanchester hat einen großen Gesellschaftsroman geschrieben, der die Turbulenzen am Finanzmarkt 2007-2008 - also vor dem Zusammenbruch von Lehman Brothers - ebenso einbezieht wie die Auswirkungen der Gentrifizierung auf die Immobilienpreise, das Leben in der Metropole London, Immigration und Integration und die Furcht vor islamischen Terrorakten, die dazu führt, dass Shahid Kamal ins Visier der Ermittler gerät. Die Doppeldeutigkeit des Originaltitels “Capital” geht in der Übersetzung leider verloren und wird eingeengt auf den finanziellen Aspekt.
Der mit fast 700 Seiten überdurchschnittlich umfangreiche Roman ist interessant geschrieben, aber wegen der vielen Figuren mit jeweils eigener Erzählperspektive und der verschiedenen Handlungsstränge nicht ganz mühelos zu lesen. Es gibt viele ernste Themen, aber auch komische Episoden. Etwas enttäuscht ist der Leser angesichts der unspektakulären Auflösung des Rätsels um die Postkarten und Videos. Wer mit einer Rebellion der Unterprivilegierten gegen die unanständig Reichen rechnet, wartet vergeblich. Zwar haben die Armen ihre Wertvorstellungen bewahrt und sind die Guten, und die Reichen frönen nur noch dem ungehemmten Konsum, aber es ist dennoch nicht zu übersehen, dass Menschen wie die unsympathische Arabella Yount anderen wie zum Beispiel Zbigniew oder Matya Arbeit und Einkommen verschaffen.
Für “Kapital” braucht der Leser einen langen Atem. Es ist vielleicht nicht der ganz große Gesellschaftsroman des Jahrzehnts, aber mit kleinen Abstrichen dennoch eine recht lohnende Lektüre.