Eindrucksvoll, klug, feministisch

Voller Stern Voller Stern Voller Stern Voller Stern Voller Stern
lesestress Avatar

Von

„Ach, ich möchte auch mit dem Geld meines Mannes im Park herumsitzen und Kaffee trinken … Ein Sch-mama-rotzer, von Beruf Hausfrau – das ist das goldene Leben…“

Korea im Herbst 2015: Kim Jiyoung ist Anfang dreißig und – nach Ansicht ihres Mannes – verrückt geworden. Sie schlüpft immer wieder kurzzeitig in die Rollen anderer Frauen, imitiert ihre Stimmen und kopiert ihre Verhaltensweisen. Ein Psychiater soll ihr nun helfen und therapiert sie offiziell wegen Schlafstörungen und Erschöpfungserscheinungen. Das scheinbar individualpsychologische Problem der jungen Mutter entpuppt sich langsam, mit immer tieferen Einblicken in die Vergangenheit, als sozialpolitisches Problem von Frauen in einer patriarchalen Gesellschaft im Allgemeinen.

„Kim Jiyoung, geboren 1982“ ist Cho Nam-Joos Debütroman und zeigt die exemplarische Geschichte der titelgebenden Jiyoung aus Seoul, die schon früh lernen musste, welche Rolle ihr als Frau zugedacht ist. Ihr Alltag bestimmt sich durch viele Pflichten und wenig Rechte: Das Essen teilt sie mit ihrer Schwester, während ihr Bruder immer eine volle Portion bekommt. Sie darf zur Schule gehen, nicht aber Klassensprecherin werden. Sie soll unabhängig sein und ihre Eltern entlasten, ist aber selbst schuld daran, im Bus belästigt zu werden. Sie darf studieren, hat aber anschließend kaum Chancen auf einen Job. Immer wieder werden ihr männliche Bewerber vorgezogen, weil sie nicht ausfallen werden, sobald sie eine Familie gründen. Es sind schließlich die Frauen, die dann zu Hause bleiben – müssen.

Jiyoung ist Stellvertreterin für so viele Frauen mit (mehr oder weniger) ähnlichen Erfahrungen, ihre Geschichte ist schmerzhaft-authentisch und doch nüchtern-sachlich erzählt. Die Form des Rapports, die durch Fußnoten und Verweise zu wissenschaftlichen Publikationen entsteht, lässt die Grenzen zwischen Roman und Sachbuch auf symbiotische Weise verschwimmen und ordnet Geschehnisse in Jiyoungs Leben auch soziologisch ein. Es ist diese Konsequenz der Erzählung, die dem Roman seine Wucht gibt und sich im finalen Kapitel vollständig entlädt.

Eindrucksvoll, klug, feministisch – ein grandioser Roman und mein erstes Jahreshighlight!