Im Hamsterrad einer frauenfeindlichen Gesellschaft

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Kim Jiyoung ist eine junge Mutter Anfang 30, die mit ihrer kleinen Tochter Ziwon und ihrem Mann Daehyon in einer schönen Wohnung am Stadtrand von Seoul lebt. Das klingt nach Idylle, ist es aber nicht. Jiyoung scheint psychische Probleme zu haben. Scheinbar nicht nachvollziehbar schlüpft sie plötzlich in andere Rollen, aus deren Perspektive sie die Menschen in ihrem Umfeld rüde anspricht, kritisiert oder maßregelt. Das erregt natürlich Anstoß. Nach einem diesbezüglichen Eklat bei Daehyons Eltern verlässt die junge Familie stehenden Fußes das Familientreffen. Was folgt, ist eine Rückblende angefangen im Jahr von Jiyoungs Geburt 1982, die uns durch ihr gesamtes Leben führt und wieder dort endet, wo die Geschichte ihren Anfang nahm, im Jahr 2015.

Jiyoung wird als zweite Tochter geboren in einer Gesellschaft, in der männliche Nachkommen wichtiger und bei weitem geschätzter sind als weibliche: „Bereits zehn Jahre zuvor war einSchwangerschaftsabbruch aus medizinischen Gründen legalisiert worden. Geschlechtsbestimmung und Abtreibung weiblicher Föten war gesellschaftlich akzeptiert, als ob eine Tochter zu bekommen ein medizinischer Grund wäre.“ (S. 30)

Auf diese Weise hilft sich auch Jiyoungs Mutter selbst, so dass ihr viertes Kind dann tatsächlich der gewünschte Stammhalter wird. Der Junge wird von Beginn an vorgezogen. Insbesondere die im Haushalt lebende Großmutter väterlicherseits wacht mit Argusaugen auf die Erfüllung seiner Bedürfnisse. Die Schwestern müssen zurückstecken. Was sie hier in der Familie lernen, wird sie ihr ganzes Leben begleiten: Mädchen und Frauen sind minderwertiger, sie müssen sich beständig anpassen und zurückstecken, sie werden laufend diskriminiert, während die Jungen bereits als Prinzen zur Welt kommen.

Zum Glück haben Jiyoung und ihre Schwester die Mutter. Sie ist es, die unermüdlich arbeitet, um mehr Geld für die Familie zu verdienen. Sie ist sehr geschickt im Umgang mit der Schwiegermutter. Auch den Gatten kann sie lenken, ohne dass er es merkt. Auf diese Weise wird auch den Töchtern eine anständige Schulausbildung mit anschließendem Studium ermöglicht. Doch der Weg dorthin ist steinig: Ständig gelten unterschiedliche Regeln für Jungen und Mädchen. Letztere müssen sich permanent beweisen und durch Leistung glänzen. Immerzu werden sie von den Schulkameraden gemobbt, Lehrer sind nicht objektiv. Im höheren Alter verschlimmert sich das Ganze um sexuelle Komponenten: „Jiyoung warvergleichsweise gut dran, denn sie hatte nur die Schule und das Nachhilfeinstitut zu besuchen. Diejenigen unter ihrenKlassenkameradinnen, die Nebenjobs annehmen mussten, hatten wirklich schlechtere Karten. Es gab Arbeitgeber, die die Mädchen belästigten. Sie setzten sie unter Druck, indem sie deren Arbeit oder Kleidung kritisierten oder gar den Lohn als Pfand benutzten.“ (S. 70)

Bei sexuellen Belästigungen unterschiedlichster Natur wird stets den Frauen selbst die Schuld gegeben. Männer schwingen sich auf, über die Frauen zu richten, die aufgrund ihres gesellschaftlich niedrigen Standes wenige Fürsprecher haben. Dieses Klima der Diskriminierung zieht sich durch Jiyoungs Leben. Egal, ob in öffentlichenVerkehrsmitteln, in der Universität oder am Arbeitsplatz, überall zeigt man den jungen Frauen ihre Grenzen auf. Auch die Mutterschaft ist keineswegs ein geschützter Raum, so haben die Frauen bei der Kindererziehung selbstverständlich die Hauptlast zu tragen, ohne Anerkennung dafür zu erhalten. Es ist eine Ungerechtigkeit, eine permanente Demütigung, die zum Himmel schreit! Obwohl sich Korea nach außen als fortschrittliches Industrieland präsentiert, ist die Gesellschaft bis heute in Sachen Gleichberechtigung der Geschlechter rückwärtsgewandt und antiquiert. 

Im Verlauf der Geschichte blitzen immer wieder kleine weibliche Revolten auf. Nicht jedes Mädchen/jede Frau mag sich in den vorgefertigten Rahmen fügen. Das gibt Hoffnung, dass die Gesellschaft vielleicht doch schon im Wandel begriffen ist und sich in der Zukunft etwas bewegen kann. Wenn die Frauen nicht für ihre Rechte eintreten und dafür kämpfen, wird sich in Sachen Gleichberechtigung nichts tun. Das gilt für Korea. Das gilt für Europa, für alle Teile der Welt. Der Status Quo ist für die eine Hälfte der Bevölkerung so unglaublich bequem… Bei uns in Deutschland ist vieles viel besser als in Korea. Aber es war ein langer, steiniger Weg dorthin und es ist auch noch lange nicht alles gut. Das Thema Gleichberechtigung muss ein Dauerthema in Gesellschaft und Politik bleiben. Insofern ist „Kim Jiyoung, geboren 1982“ ein wichtiges Buch. Es muss in Korea die Massen in Bewegung gesetzt und aufgerüttelt haben, so dass es jetzt in viele Sprachen übersetzt zur Verfügung steht. 

Der Sprachstil ist distanziert und nüchtern. Der Text klingt fast wie ein Bericht, die eingefügten Fußnoten mit Verweisen auf Quellen, Fakten und Statistiken unterstreichen den Wahrheitsgehalt des Gesagten. Manch ein Leser bescheinigt dem Text auch einen Sachbuchcharakter. 

Ich habe den Roman sehr gerne gelesen. Er hat mich in ein Land geführt, über dessen Gesellschaft ich bislang wenig wusste. Seine konstante Sachlichkeit macht ihn eindringlich, das Schicksal Jiyoungs geht an die Nieren. Durch einen schriftstellerischen Kunstgriff zum Ende des Romans hin erklärt sich diese extreme Sachlichkeit. Das hat mich zunächst etwas ratlos gemacht. In der Reflektion ergibt jedoch auch der letzte Abschnitt einen tieferen Sinn, unterstreicht den Realitätsgehalt des Buches und passt zum Gesamtkonzept.

Ein lesenswertes, zeitlos wichtiges Buch. Man muss wahrlich keine Feministin sein, um das so zu empfinden.