Uneingeschränkte Leseempfehlung

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sandra falke Avatar

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Kim Jiyoung ist eine junge Ehefrau und Mutter. Sie wohnt mit ihrem Ehemann und neugeborenen Sohn am Rande der südkoreanischen Hauptstadt Seoul und hat vor kurzem ihre berufliche Beschäftigung zugunsten der Familie aufgegeben – wie es sich eben für eine Frau ihres Alters gehört.

Plötzlich beginnt Jiyoung sich seltsam zu benehmen und die Persönlichkeiten anderer Frauen aus der Familie und der Familie ihres Mannes nicht nur zu imitieren, sondern gänzlich anzunehmen.

Der Roman erzählt in sachlich-knappem Ton Jiyoungs Lebensgeschichte von ihrer Kindheit über die Schulzeit bis zur universitären Ausbildung und beruflichen Laufbahn. Alle Phasen haben dreierlei Gemeinsamkeiten: ständige Rücksichtnahme auf alle Männer im familiären und beruflichen Umfeld, obligatorische Nutzung konventioneller Verhaltens- und Ausdrucksformen und waltende Angst vor Übergriffen von Männern zu allen Tageszeiten und an allen Existenzorten.

Egal, ob der Banknachbar in der vierten Klasse, der kleine Bruder im benachbarten Zimmer oder der Kollege im nächsten Büro – Männer stehen nach Geburtsrecht immer vor Frauen. Sei es die Vergabe der Personenidentifikationsnummer, der Rang in der Schlange zum schulischen Mittagessen oder die Empfehlungsschreiben für Firmen: Männer kommen als erste dran, Frauen mit überdurchschnittlichen Leistungen oder besonderen Bedürfnissen werden grundsätzlich vollständig ignoriert.

Dass Jiyoung ein größtenteils gutes Leben haben soll, ist dennoch eine geradezu absurde Folgerung. Der sachliche Stil der Erzählung kaschiert die emotionsbeladenen, tief prägenden Erfahrungen und das mühevolle Leben der jungen Frau nicht. Auch in ihr werden bereits in der Schulzeit bleibende Spuren von Furcht und Scham aufgrund von Männern verursachten Traumata hinterlassen.

Cho Nam-Joo hat mit „Kim Jiyoung“ einen wichtigen Beitrag zum Diskurs geleistet. Doch dass es am Ende noch nicht einmal Jiyoung selbst ist, die ihre Geschichte erzählen durfte, ist interpretativ kein gutes Zeichen.

Die vollständige Rezension findest Du auf https://sandrafalke.com.