Unerwartet großartig

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frollein_wunderbar Avatar

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Eigentlich lese ich "solche Bücher" nicht gern. Für Gesellschaftskritik gibt es jeden Tag in der Realität genug Gründe und ich weiß um die Schwierigkeiten, die Frauen in vielen Teilen der Welt begegnen, ich suche in Büchern grade NICHT die Realität. Und doch interessierte mich das Buch vom Titel her und auch von der Inhaltsangabe, so dass ich - was ich selten mache - die Leseprobe angesehen habe.
Tja und da hatte mich das Buch dann. Ich kann euch das nur empfehlen, wenn ihr unentschlossen seid, lest die ersten 20 Seiten.
Das Buch beginnt mit einer kurzen Vorstellung Kim Jiyoungs, die mit Eltern, Geschwistern und Großmutter auf engstem Raum in Seoul aufwächst und mittlerweile verheiratet ist und eine kleine Tochter hat. Alles wird sehr nüchtern beschrieben, mit virtuoser Sprache, die ich bereits bei anderen asiatischen Autoren liebgewonnen habe. Jiyoungs Mann nimmt zunehmend wahr, dass sich seine Frau wunderlich benimmt, erst glaubt er, sie macht sich lustig, doch es stellt sich heraus, dass sie in andere Personen aus ihrem näheren Umfeld "hineinschlüpft". Dies führt dann auch zum Eklat bei einem Familientreffen.
Es findet ein Zeitsprung statt. In übersichtlichen Kapiteln erfahren wir mehr über das bisherige Leben der jungen Frau, eine fiktive Geschichte, die stellvertretend für einen Großteil junger koreanischer Frauen steht. Das Buch endet mit der Diagnose des hinzugerufenen Psychiaters.
Das Buch ist großartig. Im Verlauf der Geschichte werden verschiedene Sichtweisen eingenommen, Gründe für unterschiedliche Ansichten werden beleuchtet. Das ganze richtig gut geschrieben, kein Wort zu viel und keins zu wenig.
Interessant sind auch der Aufbau der Geschichte an sich und die Randbemerkungen zu wissenschaftlichen Veröffentlichungen, beispielsweise Geburtenstatistik und Entwicklungen auf dem Arbeitsmarkt.
Wer die Geschichte einer unterdrückten Südkoreanerin erwartet, die an den Machtstrukturen und tief verwurzelten Ungleichheit der Geschlechter zerbricht, bekommt in meinen Augen eben das (zum Glück) nicht. Kein Auf-die-Tränendrüsedrücken. Kein feministisches Redenschwingen, kein Mitleidsgeheische.
Was ich gelesen habe ist nicht anklagend, es klärt ruhig und differenziert auf. Und ist somit viel deutlicher und in seiner feinsinnigen, wohldosierten Ironie schockierender.
Das Wort, was am Ende bleibt, ist "schizophren" - zweigeteilt, zwiespältig. Wenn im Gesetz die Gleichstellung der Geschlechter festgelegt wird, geschieht das noch längst nicht in den Köpfen. Mit Jiyoung ist alles in Ordnung, die Gesellschaft ist die, die krank ist.
Absolute Leseempfehlung!