Berührendes und vielschichtiges Debüt

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Sein schriftstellerisches Debüt gibt Kurt Prödel mit diesem Coming-of-age-Roman, der es vermag, einen zu überraschen und tief zu berühren.

2025 öffnet der IT-Fachmann Thomas an seinem PC mit dem ewig nicht benutzen Game förmlich die Büchse der Pandora. Herausgekrochen kommen die Erinnerungen an eine wichtige Phase in seiner Pubertät, die ihn und uns ins Jahr 2011 zurück katapultiert. Was geschah vor 14 Jahren, das ihn heute noch ins Schlingern zu bringen vermag?

„Eine Dekade ist vergangen, in der so viel passiert ist – Weltkriege in der Warteschleife, künstliche Intelligenz, diese gottverdammten E-Scooter, und Döner kostet bald zweistellig. Doch das alles ändert nichts.“ S.43

Kaum einer in der Klasse nennt Thomas bei seinem Rufnamen. Der blasse, dürre 15jährige wird wegen seiner knackenden Knochen nur „Klapper“ gerufen. Die Blässe hat er sich als Computer-Nerd selbst in den Ferien stundenlang hart am PC erarbeitet. Seine Leidenschaft gehört dort Games wie Counter-Strike, wo er sogar eigene Maps entwirft. In der Schule hingegen ist er absoluter Außenseiter, hat keine Freunde, kaum bekommt er überhaupt ein paar Worte heraus. Mitten in der Pubertät versucht er einfach nur unterzutauchen und zu überleben. Dabei hat er auch seine ganz besonderen Spezialitäten wie seine speziellen Musik-T-Shirts.
Er fügt sich in die verstaubten Regeln des geordneten bürgerlichen Elternhauses mit einer depressiven Mutter und eines Vaters, der den Sohn nicht zu greifen weiß.

Doch plötzlich wird alles anders, als die neue Mitschülerin Vivi das Klassenzimmer betritt und den Stapel mit den Atlanten auf Klappers freien Nachbartisch zur Seite schiebt. Hochgeschossen, selbstbewusst und freimütig will sie „Bär“ genannt werden.

Zwischen Klapper und Bär entwickelt sich sehr langsam und behutsam eine ganz besondere, sehr intensive Freundschaft. Die 17 jährige Bär wirkt so stark und unabhängig. Doch in ihrer betuchten, sehr großen und chaotischen Familie hat sie mehr zu tragen, als Klapper ahnt.
Bär und Klapper schenken sich gegenseitig so viel, doch alles bewegt sich auf einen Punkt zu, der Klapper auch noch nach 14 Jahren aus der Fassung zu bringen vermag…

Fazit
Der Autor versteht es wirklich mit einem gewissen Augenzwinkern das Jahr 2011 lebendig werden zu lassen. Vor dieser Kulisse zeichnet er zwei Charaktere, die absolut authentisch gelingen und die man sofort ins Herz schließen muss.

Meist erleben wir das Geschehen aus der Sicht von Klapper, aber immer führt uns auch Bär in ihr Leben daheim. Interessant ist dabei, dass Klapper weder 2011 noch in der Rahmenhandlung 2025 vollumfänglich von Bärs Erlebnissen erfahren wird.

Klappers Sicht auf seine Eltern ist absolut typisch für einen Jungen in der Pubertät. Zwar seziert er relativ distanziert deren Beziehung und Persönlichkeit, aber eine aktive Auseinandersetzung oder gar eine Rebellion dagegen findet nicht statt. Anfangs hat man das Gefühl, dass er leicht autistische Züge haben könnte. Man fragt sich, ob er jemals die Tradition in seiner Familie hinterfragen wird, sich Problemen körperlich zu entziehen, sich dann suchen und nach seinen Bedürfnissen befragen zu lassen. Da passt es wunderbar, dass wir auch beim erwachsenen Thomas noch Entwicklungen verfolgen können.

Auch Bär ist in gewisser Hinsicht eine Außenseiterin, aber die Erwartungen der anderen perlen von ihr ab. Man erlebt in ihr eine große innere Stärke, Empathie und Energie ins Tun zu kommen. Ihre Solidarität zu ihrer Familie ist bewundernswert. Doch sie lässt selbst Klapper nicht zu nahe an sich heran.
Die Freundschaft zwischen den beiden vollkommen unterschiedlichen Außenseitern mit komplett anderen familiären Background wird mit sehr viel Einfühlungsvermögen, Melancholie, aber auch Humor geschildert.

Die Erzählung wechselt immer mal wieder zwischen dem der Jetztzeit 2025 und dem Jahr 2011. Zunächst hat mich gerade die Situation Klappers als Erwachsener 2025 in der Rahmenhandlung sehr bewegt. Hier hatte ich gar keine Entwicklung erwartet. Da ist dem Autor die Überraschung absolut gelungen. Denn nicht nur die Pubertät und Freundschaft sind große Themen des Buches. Sondern auch der Umgang mit überwältigenden Erinnerungen und Schocks, wo der reinen Wahrnehmung das Verstehen und das Wiedererlangen des Gleichgewichts folgen. Vorgänge, die Jahre dauern können.

Der lockere Schreibstil hat mir sehr gefallen, da man sich total in die Zeit und die Situation des Jugendlichen hineinversetzen konnte. Die Kapitel sind angenehm kurz und die Perspektivwechsel sehr klar. Begleitet hat mich die Frage, was die orangenähnliche Sonne auf dem kraftvollen Cover zu bedeuten haben könnte. Die Lösung ließ mich schmunzeln. Eigentlich war es eine „aufgeschnittene saftige Zitrone, die den Himmel dominierte“ S. 118, die Klapper so fasziniert hat.

Von mir gibt es die volle Punktzahl: Die beiden Charaktere, ihre Geschichte und Entwicklung lassen einen nicht so schnell los. Ein richtig tolles Buch!