Vielschichtiges Psychogramm einer Mutter
Jakob und Pia werden zur Klassenlehrerin der 2B ihres Sohnes Luca gerufen. Der Vorwurf: Luca soll sich einem Mädchen gegenüber übergriffig verhalten haben. Der Junge selbst schweigt nachhaltig dazu. Der antiautoritäre Vater hält die Affäre für haltlos übertrieben, die Mutter traut ihrem Sohn vieles zu, sie weiß, dass Kinder kleine Monster sein können. Pia wird aus dem Klassenchat ausgeschlossen, man meidet den Kontakt zu ihr, was ihre Fantasie in Bezug auf das Vorgefallene befeuert.
Pia steht als Mutter und Ehefrau im Zentrum dieses Romans. Sie wird von Selbstzweifeln geplagt, hegt widersprüchliche Gefühle ihrer Mutterschaft gegenüber, hat Angst nicht zu genügen. Der Vorfall rund um Luca konfrontiert sie mit ihren eigenen Kindheitserinnerungen. Ihre Herkunftsfamilie lebte mit drei Kindern zurückgezogen am Waldrand. Pia und die adoptierte Romi waren fast gleichaltrig, Linda einige Jahre jünger. „Wir drei sind eins. Drei Schwestern. Eine glückliche Familie. Bis wir es nicht mehr sind.“ (S. 45)
Nach und nach erfährt der Leser um die Verluste und schwelenden Konflikte innerhalb dieser Familie. Das Verhältnis der Schwestern schwankte zwischen inniger Dreisamkeit einerseits und Eifersucht um die elterliche Zuwendung andererseits. Ein tragischer Unfall erschüttert das familiäre Gefüge, ungesunde Dynamiken werden in Gang gesetzt. Die Tragödie wird nie richtig aufgearbeitet. Schweigen, Vermutungen, Beschuldigungen sowie Rachegefühle setzen sich in den Köpfen fest, in denen Romi zum Sündenbock degradiert wird. Das vielfach Ungesagte belastet Pias Psyche bis heute. Ihr erlittenes Trauma tritt schichtweise zutage. Die Vergangenheit überlagert stellenweise die Gegenwart. Man fragt sich, inwieweit man Pia und ihren Wahrnehmungen trauen kann.
Im Verlauf lernt man auch Jakobs Herkunftsfamilie kennen, in der ebenfalls nicht alles zum Besten steht. Fängt man erst einmal an, unter der Oberfläche zu graben, findet man wohl in jeder Familie dunkle Schatten. Diese Begegnungen schärfen den Blick aufs Gesamte, schließlich besteht jeder Mensch auch aus seinen Vorfahren, die ihn vielfältig prägen. Es müssen ja nicht immer Traumata sein. Jessica Lind versteht es, absolut glaubwürdige Szenen und Dialoge zu schreiben, in denen man sich oder andere wiedererkennt.
Der Roman wird in kurzen Kapiteln allein aus Pias Perspektive erzählt, die Zeitebenen wechseln sich dabei ab. Beide sind gut verzahnt und überaus spannend aufbereitet. Es dauert eine Weile, bis der Leser komplett über das Geschehen in der Vergangenheit informiert ist. Gleichzeitig spitzen sich die Vorgänge in der Gegenwart zu. Pia misstraut ihrem Sohn mehr und mehr, sie kontrolliert und argwöhnt, sucht Beweise und Aufklärung. Dadurch entsteht eine bedrohlich beklemmende Atmosphäre. Als Leser wird man fast permanent in der Schwebe gehalten, denn es gibt Be- und Entlastendes. Pia ist eindeutig bemüht, die Wahrheit ans Licht zu bringen. Diese Verdichtung ist der Autorin hervorragend gelungen. Der Roman besitzt eindeutig Elemente eines Psychothrillers, so dass man ihn schwer aus der Hand legen kann.
Zum Ende hin wird die Handlung gerafft, bevor sie in einem dramatischen Finale auf den Höhepunkt zusteuert. Hier setzt nun mein Kritikpunkt an. Es muss nicht alles auserzählt werden, ich kann gut mit offenen Fragen umgehen. Aber sie müssen stimmig sein, sie müssen zu Handlung und den Charakteren passen. Bei diesem Ende, das ich nicht näher ausführen will, verlief mir manches im Verhältnis zur vorherigen Dramatik zu einfach, zu optimistisch, zu oberflächlich. Ich kann es schwer in Worte fassen, ohne zu spoilern.
Ich habe diesen Roman verschlungen. Ich betrachte Jessica Lind als begabte junge Autorin, von der man hoffentlich noch viel lesen wird. Der Text besitzt reichlich Tiefe und Lebenserfahrung.
Große Leseempfehlung!
Pia steht als Mutter und Ehefrau im Zentrum dieses Romans. Sie wird von Selbstzweifeln geplagt, hegt widersprüchliche Gefühle ihrer Mutterschaft gegenüber, hat Angst nicht zu genügen. Der Vorfall rund um Luca konfrontiert sie mit ihren eigenen Kindheitserinnerungen. Ihre Herkunftsfamilie lebte mit drei Kindern zurückgezogen am Waldrand. Pia und die adoptierte Romi waren fast gleichaltrig, Linda einige Jahre jünger. „Wir drei sind eins. Drei Schwestern. Eine glückliche Familie. Bis wir es nicht mehr sind.“ (S. 45)
Nach und nach erfährt der Leser um die Verluste und schwelenden Konflikte innerhalb dieser Familie. Das Verhältnis der Schwestern schwankte zwischen inniger Dreisamkeit einerseits und Eifersucht um die elterliche Zuwendung andererseits. Ein tragischer Unfall erschüttert das familiäre Gefüge, ungesunde Dynamiken werden in Gang gesetzt. Die Tragödie wird nie richtig aufgearbeitet. Schweigen, Vermutungen, Beschuldigungen sowie Rachegefühle setzen sich in den Köpfen fest, in denen Romi zum Sündenbock degradiert wird. Das vielfach Ungesagte belastet Pias Psyche bis heute. Ihr erlittenes Trauma tritt schichtweise zutage. Die Vergangenheit überlagert stellenweise die Gegenwart. Man fragt sich, inwieweit man Pia und ihren Wahrnehmungen trauen kann.
Im Verlauf lernt man auch Jakobs Herkunftsfamilie kennen, in der ebenfalls nicht alles zum Besten steht. Fängt man erst einmal an, unter der Oberfläche zu graben, findet man wohl in jeder Familie dunkle Schatten. Diese Begegnungen schärfen den Blick aufs Gesamte, schließlich besteht jeder Mensch auch aus seinen Vorfahren, die ihn vielfältig prägen. Es müssen ja nicht immer Traumata sein. Jessica Lind versteht es, absolut glaubwürdige Szenen und Dialoge zu schreiben, in denen man sich oder andere wiedererkennt.
Der Roman wird in kurzen Kapiteln allein aus Pias Perspektive erzählt, die Zeitebenen wechseln sich dabei ab. Beide sind gut verzahnt und überaus spannend aufbereitet. Es dauert eine Weile, bis der Leser komplett über das Geschehen in der Vergangenheit informiert ist. Gleichzeitig spitzen sich die Vorgänge in der Gegenwart zu. Pia misstraut ihrem Sohn mehr und mehr, sie kontrolliert und argwöhnt, sucht Beweise und Aufklärung. Dadurch entsteht eine bedrohlich beklemmende Atmosphäre. Als Leser wird man fast permanent in der Schwebe gehalten, denn es gibt Be- und Entlastendes. Pia ist eindeutig bemüht, die Wahrheit ans Licht zu bringen. Diese Verdichtung ist der Autorin hervorragend gelungen. Der Roman besitzt eindeutig Elemente eines Psychothrillers, so dass man ihn schwer aus der Hand legen kann.
Zum Ende hin wird die Handlung gerafft, bevor sie in einem dramatischen Finale auf den Höhepunkt zusteuert. Hier setzt nun mein Kritikpunkt an. Es muss nicht alles auserzählt werden, ich kann gut mit offenen Fragen umgehen. Aber sie müssen stimmig sein, sie müssen zu Handlung und den Charakteren passen. Bei diesem Ende, das ich nicht näher ausführen will, verlief mir manches im Verhältnis zur vorherigen Dramatik zu einfach, zu optimistisch, zu oberflächlich. Ich kann es schwer in Worte fassen, ohne zu spoilern.
Ich habe diesen Roman verschlungen. Ich betrachte Jessica Lind als begabte junge Autorin, von der man hoffentlich noch viel lesen wird. Der Text besitzt reichlich Tiefe und Lebenserfahrung.
Große Leseempfehlung!