Wie uns die Vergangenheit prägt
Pia und Jakob werden zu einem Gespräch in die Schule gebeten. Ihr siebenjähriger Sohn Luca soll ein gleichaltriges Mädchen sexuell belästigt haben. Die Lehrerin beschränkt sich auf Andeutungen. Es wird also nicht klar, um welche Art Grenzüberschreitung es sich gehandelt hat. Und Luca schweigt zu den Vorwürfen. Aus Angst? Aus Trotz? Aus schlechtem Gewissen ? Der Vorfall hat Folgen. Pia und Jakob werden sofort aus der WhatsApp - Elterngruppe ausgeschlossen, man geht ihnen aus dem Weg.
Während Jakob seinem Sohn vertraut und das Ganze als kindliches Spiel abtut, nagen in Pia die Zweifel. Misstrauisch beginnt sie ihren Sohn zu beobachten, versucht sein Verhalten zu interpretieren. Sind Kinder so unschuldig, wie es Eltern gerne glauben mögen? Oder stecken in ihnen nicht doch „ kleine Monster“? „ Jakob sieht nicht, was ich sehe. Weil er das Dunkle nicht kennt. Aber ich kenne es, und wenn Luca auch so ist, dann ist er es wegen mir.“.
Bald wird klar, dass Pias Zweifel viel mit ihr selber zu tun haben, mit ihrer Sicht auf sich selbst. „ Ich bin die, mit der etwas nicht stimmt.“
Der Vorfall löst Erinnerungen aus an in ihre eigene Kindheit. Aufgewachsen ist sie mit zwei Schwestern, mit der adoptieren Romi und dem Nachzügler Linda, in einem idyllischen Haus am Waldrand. Die Eltern haben sich aus altruistischen Gründen für ein Adoptionskind entschieden, sie wollten „ einem Kind eine Chance geben, mit dem es die Welt nicht so gut meint“ . Nach außen hin entsprachen sie so dem Bild einer glücklichen Familie. Aber stimmte dieser Eindruck? Wie soll man sich sonst den wütenden Vorwurf der Mutter erklären, den Pia nie vergessen kann? „ Dich habe ich geboren, aber Romi habe ich mir ausgesucht. Sie ist unser Wunschkind.“ Die Schwestern schwanken zwischen inniger Verbundenheit und Eifersüchteleien und Rivalitäten.
Aber erst ein tragischer Unfall, der nie ganz aufgeklärt wird, führt zum Bruch in der Familie. „ Wir drei sind eins. Drei Schwestern. Eine glückliche Familie. Bis wir es nicht mehr sind.“
Das Gefüge zerbricht. Ein großes Schweigen legt sich über alles. Doch darunter gärt es. Unausgesprochene Vorwürfe wirken sich im Umgang miteinander aus. Die Eltern werden hart; der Vater entzieht sich, die Mutter ist mal liebevoll, mal grausam. „ Ich hatte drei Mütter.“ heißt es im Roman. „ Die erste war gut und lieb, streng, aber gerecht. Die zweite war kalt und verschlossen. Die dritte lächelt immerzu und backt Apfelkuchen“
Romi wird zum Sündenbock in der Familie, bis diese auszieht und den Kontakt abbricht.
In diesem Roman wird deutlich vorgeführt, wie Traumata weiterwirken. Unverarbeitetes aus der Vergangenheit hat Folgen bis in die Gegenwart hinein.
Pia kennt die Fragilität von Familienbeziehungen und die Unwägbarkeit von Menschen; ihre Erfahrungen haben zu einem grundsätzlichen Misstrauen und zu großen Verlustängsten geführt. Dabei traut sie auch ihrer Sicht auf die Wirklichkeit nicht.
Die Autorin hält auf beiden Zeitebenen die Spannung aufrecht bis zum Schluss. Nicht nur, weil man sich fragt, was denn nun in beiden Fällen genau geschehen ist, sondern auch weil sich Pia immer mehr in ihren Argwohn Luca gegenüber hineinsteigert. Dabei greift sie zu Methoden, die sich nicht entschuldigen lassen. Man kann nur hoffen, dass ihr Verhalten keine langfristigen Folgen für den sensiblen Jungen hat.
Pia ist die Ich- Erzählerin, aus ihrer Sicht erfahren wir alles. Sie ist keineswegs zuverlässig und auch nicht unbedingt sympathisch. Erzählt wird in kurzen Kapiteln, das verwendete Präsens schafft eine Unmittelbarkeit. Die Autorin hat ein gutes Gespür für prägnante Szenen und aussagekräftige Dialoge. Die Stimmung wirkt oftmals bedrohlich und unheimlich. Cliffhanger und vage Andeutungen machen das Buch zu einem echten Pageturner. Nur das Ende kommt etwas zu abrupt daher.
Pia kann sich in weiten Teilen mit ihrer Vergangenheit aussöhnen. Klärende Gespräche mit Mutter und Schwester haben ihr dabei geholfen. Dass nicht alle Fragen beantwortet werden, ist hier kein Manko.
Jessica Lind greift die Themen Mutterschaft, Eltern-Kind-Beziehungen und Familie in verschiedenen Konstellationen auf. So bekommen wir auch einen Einblick in Jakobs Familie. Hier gab es keine einschneidenden Geschehnisse, trotzdem ist das Verhältnis nicht ungetrübt.
Hervorzuheben sind noch der eher doppeldeutige Titel und das surrealistische Cover, das perfekt zum Inhalt passt.
„Kleine Monster“ ist der zweite Roman der österreichischen Autorin und er steht zu Recht auf der Liste für den diesjährigen österreichischen Buchpreis. Man darf gespannt sein auf weitere Bücher von ihr.
Der Roman ist ein packendes Familiendrama, das sich mit seinen psychologisch spannenden Fragestellungen wunderbar für Lesekreise eignet.