Von verirrten Schafen und wahren Wölfen

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selina9a Avatar

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Was Winnie M Li mit ihrem Roman "Komplizin" geschaffen hat mich zutiefst beeindruckt und wird vermutlich noch lange in mir nachhallen.
Über die Relevanz des gewählten Themas - nämlich sexualisierte Gewalt im Showbusiness - müsste ich vermutlich gar nicht erst reden. Nach Harvey Weinstein und #metoo wird diesen erschütternden Problemen glücklicherweise mehr und mehr Beachtung geschenkt, doch an Aufmerksamkeit ist es noch lange nicht genug und vermutlich wird es auch nie genug sein.
Wie könnte es auch, wenn es immer noch der naheliegendste Gedankengang zu sein scheint, als aller Erstes einmal die Opfer zu beschuldigen?
Wenn es die Mehrheit der Menschheit noch nicht einmal schafft, das Mindeste zu tun - nämlich zuzuhören - dann wird auch das weiterhin bestehende Machtgefälle zwischen den Geschlechtern niemals zu bewältigen sein.

Gerade deshalb leistet Winnie M Li einen unglaublich wichtigen Beitrag. Mit schonungsloser Ehrlichkeit lässt sie den roten Samtvorhang, in den sich Hollywood weiterhin hüllt, Stück für Stück fallen. Dabei macht sie vor nichts Halt - auch nicht vor ihren eigenen Fehlern, ihrer eigenen Schuld. Das war es, was den Roman für mich so besonders machte: Dieses ins Gericht gehen mit der eigenen Person, diese fast schon brutale Selbstreflexion.

Sarah habe ich als Protagonistin sehr genossen. Ihre Figur ist absolut vorbildlich herausgearbeitet, sie ist vielschichtig und sehr dynamisch. Sarah hat Ecken und Kanten und verhält sich sicher nicht immer richtig. Doch all ihre Fehler machen sie in erster Linie nahbar und menschlich. Ihre Motive sind stets plausibel und ich habe mich beim Lesen des Öfteren ertappt, dass ich in ihrer Situation vermutlich ganz genauso handeln würde: Sarah hatte einen Traum und war bereit, vieles dafür zu opfern, um diesen zu erreichen. Anpassung an die Welt, in der sie lebte, war hierfür ein notwendiges Übel, ein Kollateralschaden sozusagen. Natürlich hat sie falsch gehandelt, natürlich hatte sie in erster Linie ihr eigenes Wohl im Sinn, doch sie war eben auch selbst Opfer. Und Opfer werden schneller zu Mittätern, als man #metoo sagen kann, einfach um überleben zu können. Das macht Sarahs Fehler zwar in keiner Weise ungeschehen, aber verglichen mit den wahren Wölfen ist sie lediglich ein verirrtes Schaf. Allein die Tatsache, dass sie überhaupt mit Tom darüber sprach und sich zu ihrer Schuld bekannte, leistet einen unglaublich wertvollen Beitrag, der viel Mut erfordert.

Auch der Schreibstil von Winnie M Li hat mir wirklich gut gefallen. In Kombination mit der durchdachten Strukturierung der Geschichte, ist so ein Spannungsbogen gelungen, der sich mehr als sehen lassen kann. Keine Flauten, keine zähen Kapitel. "Mitreisend" trifft den Erzählstil der Autorin vermutlich recht gut.
Zu sagen, ich hätte Spaß beim Lesen gehabt, wäre angesichts des bedrückenden Themas zwar absolut unpassend, aber eine gute Zeit hatte ich allemal.

Ich würde mir wirklich von Herzen wünschen, dass dieser Roman noch mehr Leuten in die Hände fällt. Jedes Buch, jede Dokumentation und jeder Artikel, der die Täter sexualisierter Gewalt entlarvt und den Leuten die rosarote Brille abnimmt, mit der sie Hollywood und Co für gewöhnlich betrachten, ist Gold wert.