Eine deutsche Migrationsgeschichte

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alasca Avatar

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„Wir gingen weg, um zu suchen, was wir gleichzeitig verloren. Eine Heimat.“

Auch Kathleen hat das getan: Ist weggegangen aus ihrem Heimatdorf in Brandenburg, in der Überzeugung, dass sie das, was sie sucht, nicht im Osten finden wird.

Je mehr Kathleens Weg sich vom Lebensweg der Eltern unterscheidet, desto mehr wächst das Gefühl von Distanz und Fremdheit. „Vielleicht bin ich deshalb am liebsten in der Fremde, weil es dort leichter zu ertragen ist, fremd zu sein, als an einem Ort namens ,Zuhause ‘.“ Kathleen geht nicht in die BRD , sondern nach London – und selbst das ist ein Kompromiss, denn eigentlich will sie in die USA. Aber die räumliche Distanz, muss sie feststellen, bedingt keine innere.

Der Roman ist in zehn „Heimfahrten“ gegliedert; manche davon finden online statt, manche aufgrund von Hochzeiten, Umzügen, Todesfällen. Kathleens Alltag in London bleibt blass, ihr neues Leben scheint leer, aber mit jeder Heimfahrt wird unser Bild von Kosakenberg plastischer und Kathleens quälende Ambivalenz deutlicher. War die Entscheidung zu gehen gut? Oder haben es die, die geblieben sind, richtig gemacht? Sie wünscht sich Anerkennung, aber weder ihre Familie noch das Dorf kann mit ihrer Berufswahl – Graphic Designer – etwas anfangen. Was nutzt ein Studium, wenn man am Ende nicht Arzt oder Anwältin ist? Der Verkauf des Elternhauses schließlich löst eine Krise aus. „Ich hatte mir nie die Frage gestellt, was es heißt, wegzugehen und nicht zurückkommen zu können.“

In Kosakenberg, das Buchcover verrät es, spielen Hühnereier eine große Rolle. Eier waren „Zahlungsmittel und Liebesbeweis“ und eigene Hühner bildeten eine wirtschaftliche Konstante in der DDR. Ihre Zerbrechlichkeit symbolisiert die Brüchigkeit der Beziehungen zwischen den Fortgegangenen und den Daheimgebliebenen. Großartig die Szene, in der Kathleen in ihrer Londoner Wohnung ein Paket von ihrer Mutter auspackt – und sechs Eier zutage fördert.

Kathleens Antagonistin ist ihre Kindheitsfreundin Nadine: Sie ist geblieben, sie steht für die Ambivalenz der Dörfler gegenüber den Fremdgewordenen. „Gehen, ein Vergehen.“ Generell gefiel mir die knappe, treffende Figurenzeichnung des Romans, aber mit der brüsken Nadine ist Rennefanz ein besonders lebendiger, vielschichtiger Charakter gelungen, der sich eindeutigen Interpretationen entzieht. Auch Kathleen kommt nicht immer sympathisch rüber; oft ironisch, manchmal arrogant, geht sie schnell ins Urteil – um es ebenso schnell zu revidieren. Ihre Leiden an der Heimat, zwischen Fremdschämen und Sehnsucht, kann wohl jede Bildungsaufsteigerin nachvollziehen. Nicht ohne Grund ist dem Roman ein Zitat von Didier Eribon vorangestellt. Erst in den letzten Kapiteln bekommen wir einen näheren Eindruck von Kathleens Leben in London. Am Ende trifft sie Entscheidungen, die mich auf eine Fortsetzung hoffen ließen.

Kathleens Geschichte hat eine hohe Gegenwartsrelevanz, ist allgemeingültig und steht für viele Biographien, nicht nur für deutsche. Die Romanstruktur der Heimfahrten fand ich angenehm logisch. Wie Rennefanz Kathleens Ringen mit Heimat, Klasse und Identität darstellt und dabei - ohne in Ostalgie zu verfallen - die untergegangene Kultur des ländlichen Ostens zum Leben erweckt, das fand ich ungemein fesselnd. Dazu kommt eine kluge, unaufdringliche Symbolik und sensible Sprachbilder, die einem diese Welt bildhaft vor Augen führen. Auch wir Wessis bekommen auf humorvolle Art den Spiegel vorgehalten.

Der Roman ruft ins Bewusstsein, dass es auch deutsche Migrant:innen gegeben hat und gibt. Migration ist ein langer, schmerzhafter Prozess. Gut, das in heutigen Zeiten nicht zu vergessen.