Moderner, lesenswerter Heimatroman

Voller Stern Voller Stern Voller Stern Voller Stern Leerer Stern
bücherhexle Avatar

Von

Kathleen hat 1997 ihre Heimat, den in der brandenburgischen Provinz gelegenen Ort Kosakenberg, verlassen. Die Gegend leidet unter der Landflucht der jungen Leute. Die Gebliebenen wirken frustriert, fühlen sich noch immer von der Wende überrollt, die ihre Existenzen auf den Kopf gestellt hat, hohe Arbeits- und Perspektivlosigkeit sind die Folge. Kathleen studierte in Berlin, sie hat sich mittlerweile einen attraktiven Job als Grafikdesignerin bei einem Londoner Modemagazin erarbeitet. Eindeutig ist ihr der soziale Aufstieg gelungen. Leider können sich ihre Eltern nicht darüber freuen. Das Verhältnis zu ihnen ist angespannt, sie zeigen keinerlei Interesse an Kathleens Leben oder tun ihren Beruf als „Bilderverschieberei“ ab. Begegnungen sind von Schweigen und Missverständnissen geprägt. Offensichtlich nehmen es die Eltern ihrer Tochter übel, dass sie Kosakenberg (und damit sie selbst) verlassen hat. Ständig muss sich Kathleen mit persönlicher Kritik auseinandersetzen. Schmerzhaft wird ihr die fast gleichaltrige Jugendfreundin Nadine als lobendes Beispiel vorgeführt, weil diese der Heimat treu blieb und eine Familie gründete.

Im Verlauf des Romans entwickelt sich Nadine zum Gegenentwurf Kathleens. Die beiden Frauen haben völlig diametrale Lebenswege eingeschlagen. Sie treffen jedoch in Kosakenberg immer wieder aufeinander. Dabei werden bei Kathleen vielfältige Reflexionen in Gang gebracht, die sich nicht nur mit der Vergangenheit auseinandersetzen, sondern elementare Themen wie Heimat, Zugehörigkeit, Wurzeln, Identität, Gehen und Bleiben oder die Frage, was ein glückliches Leben ausmacht, berühren. Einer der ersten Sätze des Romans fängt diesen Grundtenor wunderbar ein: „Wir verließen nicht nur unsere Familien, unsere Häuser, unsere Dörfer, sondern auch unsere Vergangenheit. Wir wollten andere werden und in dem Wollen steckte schon die Trauer um den Verlust. Wir gingen weg, um zu suchen, was wir gleichzeitig verloren. Eine Heimat.“ (S.9) Das ist genau der Zwiespalt, in dem sich Kathleen auch Jahre nach ihrem Weggang noch befindet. Sie sehnt sich nach Zugehörigkeit und buhlt latent um Anerkennung.

Im Wesentlichen bildet der Roman zehn Heimfahrten Kathleens ab, zwischen denen große Zeitabstände liegen und die deutlich eine Entwicklung beschreiben. Oft fährt Kathleen aufgrund besonderer Ereignisse nach Hause: Der Vater verlässt seine Frau auf Nimmerwiedersehen und ohne Worte, die geliebte Großmutter stirbt, das Haus von Kathleens Kindheit wird verkauft, eine Jugendfreundin heiratet, die Mutter zieht um. Immer wieder sucht Kathleen die Berührung, die Konfrontation mit der Heimat. Meist wird sie zurückgestoßen, insbesondere von ihrer Mutter, die keinen Hehl daraus macht, dass ihr der Lebensentwurf Nadines viel besser gefällt. Es gelingt der Autorin hervorragend, die ambivalenten Gefühle Kathleens, die noch immer auf der Suche nach ihrem Lebensmittelpunkt ist, sowie die schwierige Mutter-Tochter-Beziehung vielschichtig herauszustellen. Die Protagonistin muss sich erst von der Heimat und fremden Erwartungen emanzipieren, um in ein zufriedenes Leben durchstarten zu können, was in ihrem Fall ein langwieriger Prozess ist.

Dieser Roman stellt zwar einen brandenburgischen Ort in den Fokus, seine Themen gehen aber über ostdeutsche Befindlichkeiten weit hinaus. Rennefanz beherrscht einen wunderbar verknappten, eindringlichen Schreibstil, der mit wunderschönen Sätzen direkt ins Bewusstsein der Leser vordringt. Mit wenigen Worten gelingen ihr treffgenaue Charakterisierungen, die Figurenzeichnung wirkt ebenso effektiv wie präzise. Immer wieder fließt eine feine Ironie in den Text ein, der die Besonderheiten der heimatlichen Gefilde beschreibt. Die Autorin verfügt über eine differenzierte Beobachtungsgabe und hat ein Gespür für das allzu Menschliche. Ihre Sprachbilder und ihre unaufdringliche Symbolik haben mich immer wieder innehalten lassen, so genau treffen sie ins Mark, bringen das Wesentliche auf den Punkt.

Über weite Strecken habe ich diesen Roman begeistert gelesen, habe aber leichte Schwierigkeiten mit dem Ende, das mir in Teilen zu holprig, zu konstruiert erscheint, weil es nicht recht zur dargestellten Ich-Erzählerin passen will. An dieser Stelle erscheint mir die Symbolik zu gewollt, zu sparsam hergeleitet. Aber das ist mein persönlicher Leseeindruck, viele andere hat gerade dieser Ausgang mitgenommen und das Buch hochzufrieden schließen lassen. Es ist eben Geschmackssache. (Ich las den Roman im Rahmen einer engagierten Leserunde.)

Sabine Rennefanz hat mit „Kosakenberg“ einen beeindruckenden Roman vorgelegt, dem viele Leser zu wünschen sind und der aufgrund seiner stilistischen Raffinesse auch eine Zweitlektüre vertragen kann.
Leseempfehlung!