Die Geschichte eines langen Abschieds

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buecherfan.wit Avatar

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Auch Kent Harufs nunmehr in deutscher Übersetzung vorliegender Roman “Kostbare Tage“ spielt in der fiktiven Kleinstadt Holt in den Great Plains in Colorado. Im Mittelpunkt stehen der Eisenwarenhändler „Dad“ Lewis, seine Frau Mary und Tochter Lorraine. Dad hat Krebs im Endstadium und nur noch kurze Zeit zu leben. Seine Familie umsorgt ihn, begleitet ihn liebevoll in dieser letzten Phase, aber auch die Nachbarn kümmern sich und unterstützen die Familie. Nur einer fehlt: Frank, der Sohn und Bruder. Der homosexuelle Frank hatte schon als junger Mann das Elternhaus im Streit verlassen. Sein derzeitiger Aufenthaltsort ist nicht bekannt. In Holt kennt jeder jeden, weiß alles über alle anderen. Da sind Menschen, die anders sind, nicht wohl gelitten. Das bekommt auch Reverend Lyle, der neue Pastor, zu spüren, der schon seine letzte Gemeinde in Denver unter unschönen Umständen verlassen musste. Seine auf der Bergpredigt basierende Auslegung der Aufforderung, seine Feinde zu lieben, legen die meisten Gemeindemitglieder voller Zorn und Ablehnung zu seinem Nachteil aus und beschimpfen ihn als Terroristenfreund. Es gibt einen enormen Zusammenhalt und mitmenschliches Verhalten in dem kleinen Ort, aber sofortige Ausgrenzung, wenn jemand sich nicht anpasst. Auch Lyles Familie wird zum Problem.
In Harufs Roman gibt es keine spektakuläre Handlung. Es geht um die Darstellung des ganz normalen Alltags in einer typischen amerikanischen Kleinstadt. Gleichzeitig liefert der Autor ein berührendes Porträt des Sterbenden, der sich an wichtige Begebenheiten in seinem Lieben erinnert, harte Entscheidungen in der Vergangenheit bereut, die er teilweise durch aktive Hilfe mildern konnte, wobei allein das Zerwürfnis mit seinem Sohn nicht durch Verzeihen und Aussöhnung aus der Welt geschafft werden kann. An seinem Sterbebett erscheinen die Geister der Vergangenheit, aber nicht alles lässt sich zum Abschluss bringen. Harufs Roman berührt, allerdings präsentiert er keine sensationell neuen Erkenntnisse, sondern so manches Klischee. Es menschelt ein bisschen zu sehr, und zum Ende hin wird die Geschichte zunehmend melodramatisch. “Unsere Seelen bei Nacht“ und “Lied der Weite“ haben mir besser gefallen.