Ein berührender Oneshot

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Ein Oneshot bezeichnet üblicherweise einen Filmdreh, der am Stück und ohne Schnitt gedreht wird. "Oneshot" ist im Fall von Kent Harufs "Kostbare Tage" jedoch sowohl Metapher als auch Beschreibung. So habe ich diesen fließenden Roman eben tatsächlich am Stück und ohne Pause gelesen.

Der Roman nimmt den Leser mit in das Haus von Dad Lewis und seiner Frau Mary. Eine schlechte gesundheitliche Prognose direkt im ersten Kapitel gibt sowohl dem Roman als auch seinen Figuren eine gewisse Richtung vor. Wir lernen darüber hinaus Dads Tochter Lorraine kennen und erfahren von Frank, seinem Sohn, zu dem er sehr lange keinen Kontakt mehr hatte. In der Nachbarin Berta May sowie ihrer Enkelin Alice finden die Lewis' ebenso tatkräftige Unterstützung in dieser schwierigen Zeit wie in Willa Johnson und ihrer Tochter Alene. Und Auch der Pfarrer, Reverend Lyle, findet trotz eigener familiärer Probleme passende Worte selbst für einen wenig gläubigen Mann und seine Angehörigen.

Was sich in der Kurzzusammenfassung liest wie ein bedrückendes Szenario ist vielmehr ein Einblick in den Alltag einer amerikanischen Kleinstadt. Wir befinden uns in der fiktiven Stadt Holt in Colorado, ca. zwei Stunden mit dem Auto von Denver entfernt. Und Alltag ist dabei wörtlich zu verstehen: Es geht um alltägliche Probleme von mal mehr oder weniger einsamen Menschen. Es geht um ihre (gescheiterten) Hoffnungen und Wünsche, um die kleinen Freuden der kleinen Dinge. Es ist ebenso wenig aufregend wie seicht, es ist gerade richtig für einen gemütlichen Sonntagnachmittag.

Dabei kommt das Buch gänzlich ohne klassischen Sympathieträger aus. Natürlich fühlt man mit dem Sterbenden mit, selbstverständlich versteht man die Trauer und das Leid seiner Frau und seiner Tochter. Auch die Gedanken der Nachbarn bleiben nachvollziehbar, aber alles in allem bleibt man doch positiv distanziert, betrachtet die Geschehnisse aus einer angenehmen Vogelperspektive. Nur gegen Ende, dem unvermeidlichen Ende, sinkt der Vogel doch hinab ins Tränenmeer und bereichert den Leser mit einer Trauer, die zeigt, dass man aus seiner bequemen Vogelperspektive heraus doch mehr mitgenommen hat, als zunächst gedacht.

"Kostbare Tage" ist ein Roman, der sich in wenigen kostbaren Stunden rasch und flüssig lesen lässt. Es ist kein großer Roman und will es vielleicht auch gar nicht sein, und ist genau in diesem Nicht-Groß-Sein-Wollen unglaublich reich und authentisch. Es ist ein Oneshot, ein kurzweiliger Film in Buchformat, der eine kurze Reise in eine amerikanische Kleinstadt ermöglicht.