Loslassen und Verzeihen

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Dad Lewis wird noch in diesem Sommer sterben. Bereits auf der Rückfahrt aus dem Krankenhaus beginnt sein Abschied, er wird die Strecke nach Holt/Colorado nie mehr fahren. Dem Patienten bleibt nur wenig Zeit sein Leben loszulassen und sein Haus zu bestellen. „Dads“ Tochter Lorraine kommt sofort in ihr Elternhaus zurück, um die ebenfalls betagte Mary bei der Pflege zu unterstützen. Eingebunden sind die Lewis in ein Netz von Nachbarschaftshilfe, das mit Nachbarin Berta und Mutter und Tochter Johnson sofort aktiv wird. Lorraine hätte sich längst bei ihnen melden müssen, erinnern die Johnsons. Holt wirkt auf eine tröstliche Art altertümlich, eine überschaubare Kleinstadt, in der man sich sicher fühlen kann, in der aber auch jeder umgehend alles über einen erfährt. Der Sohn des neuen Reverend leidet so stark unter seiner Verpflanzung aufs Land, dass er möglichst sofort wieder nach Denver zurück will.

Obwohl es ihm bereits sichtlich schlecht geht, muss Dad Lewis noch einige wichtige Dinge regeln, bevor er loslassen kann. Zu seinen letzten Wegen gehört ein Blick auf die Ranch der beiden älteren Brüder, die in „Lied der Weite“ eine schwangere 16-jährige bei sich aufnahmen. Neben seiner Sorge um die Nachfolge in der Eisenwarenhandlung stellt sich „Dad“ die drängende Frage nach seinem Sohn Frank, der Holt in den 60/70ern sofort nach seinem Schulabschluss verlassen und den Kontakt zu seinen Eltern abgebrochen hat. Auch wenn Lewis manches Problem wie in der guten alten Zeit von Angesicht zu Angesicht lösen kann, sind die Wunden nicht zu heilen, die der Ort Holt dem jungen Frank damals zufügte. Abschiede stehen nicht nur Dad Lewis und seinen Angehörigen bevor, auch die alleinstehende Lorraine und Alene Johnson sind im Alter mit ungelebten Träumen konfrontiert. Zwischen allen Lasten blitzt jedoch immer wieder die äußere Idylle der Kleinstadt auf – und die pure Lebensfreude der Figuren im Alltag. Die kleine Alice aus Bertas Haushalt kann sich nur wundern, was ein Grüppchen alter Frauen an einem sonnigen Tag zustande bringen kann.

Kent Harufs dritter Band um die Kleinstadt Holt spielt zu Beginn unseres Jahrtausends, als bereits amerikanische Soldaten in den Krieg in einem fernen Wüstenstaat geschickt werden. Das Sterben des Familienoberhaupts nach einem erfüllten Leben ist wie dessen Umgang mit Schuld und Verzeihen ein zeitloses Thema, das Kent Haruf berührend vermitteln kann. Dad Lewis war stets ein verlässlicher Partner und Geschäftsmann, im Alter ist es ihm jedoch nicht gegeben, von seinem Weg abzuweichen, wie er Dinge stets regelte. Seine „Lösungen“ wirken für unser Jahrtausend zu märchenhaft und beim näheren Hinsehen unrealistisch. So bleibt Ungesagtes zurück, über das man mit ihm nicht reden konnte und für das es nun vermutlich kein Verzeihen geben wird.

Gegen das gesamte Netz „Holt“ mit seinen Bewohnern fällt der Abschlussband aus meiner Sicht ab, weil zu viele der Probleme sich zu märchenhaft in Luft auflösen.