Tage des Abschieds und Tage der Hoffnung

Voller Stern Voller Stern Voller Stern Voller Stern Voller Stern
bücherhexle Avatar

Von

Dieses ist der vierte Roman, den ich von Kent Haruf gelesen habe. Wieder ist die Geschichte im fiktiven Städtchen Holt im Umkreis der Großstadt Denver in Colorado (USA) angesiedelt. Zu Figuren aus vorangegangenen Romanen gibt es nur sehr lockere Verbindungen, so dass man „Kostbare Tage“ völlig unabhängig lesen kann, zumal er einen Zeitsprung von mindestens 30 Jahren zu den Vorgängern vollführt.
Im Mittelpunkt des Romans steht der selbständige Eisenwarenhändler Dad Lewis. Gleich auf den ersten Seiten erhält er eine äußerst negative ärztliche Prognose: Dad ist unheilbar an Krebs erkrankt, er muss sich mit seinem baldigen Tod auseinander setzen: „Noch ehe der Sommer vorbei war, wäre er tot. Anfang September würde man draußen auf dem Friedhof, drei Meilen östlich der Stadt, Erde über ihn schütten, auf das, was von ihm übrig war. Man würde seinen Namen auf einen Grabstein meißeln, und dann wäre es so, als hätte es ihn nie gegeben.“ (S. 10)

Doch Dad kann sich glücklich schätzen. Mit Mary hat er eine verständnisvolle Gattin an seiner Seite, die ihn umsorgt und pflegt. Als es für sie allein zu schwer wird, kommt Tochter Lorraine, um die beiden zu unterstützen. Der bevorstehende Tod wird von allen Beteiligten als unumstößlich akzeptiert. Es geht im Folgenden darum, Dad seine verbleibende Zeit möglichst angenehm zu gestalten und ihm einen würdevollen Abschied zu ermöglichen. Auch der Kranke selbst denkt über sein Leben nach. Dabei treten unter anderem Situationen in sein Bewusstsein, mit denen er nicht im Reinen ist, von denen er glaubt, falsch gehandelt oder Fehler begangen zu haben. Im Rahmen seiner Möglichkeiten bemüht er sich um eine Wiedergutmachung, was sehr glaubwürdig und empathisch beschrieben wird. Die größte offene Wunde ist sein Sohn Frank, der schon vor Jahren untergetaucht ist und zu dem die Eltern keinerlei Kontakt mehr haben. Im Verlauf des Romans erhält der Leser immer tiefere Einblicke in das komplizierte Verhältnis zwischen Vater und Sohn.

Aber auch weitere interessante Figuren bevölkern die kleine Stadt Holt, „in der nichts passiert, ohne dass alle Leute es mitkriegen“ (S. 31). Der neue Pfarrer, Reverend Lyle Wesley, ist in der Gemeinde angekommen und wird misstrauisch beäugt. Er ist Idealist, fordert den Glauben seiner Gemeinde heraus. Auch sein Sohn John hat große Schwierigkeiten, in Holt Fuß zu fassen, obwohl er zum ersten Mal verliebt ist.
Berta May ist die hilfsbereite Nachbarin, deren Tochter vor nicht langer Zeit dem Brustkrebs erlegen ist. Enkeltochter Alice lebt nun bei ihrer Oma. Alice ist ein besonderes Mädchen. Wahrscheinlich haben die Lebensumstände sie schnell reifen lassen, auf alle Fälle ist sie sehr sensibel. Sie kann wunderbar mit den Menschen ihres Umfeldes umgehen und verbreitet – ohne es bewusst zu wollen – eine positive, hoffnungsvolle Aura.
Man lernt die Johnson-Frauen Willa und ihre Tochter Alene kennen, zwei Frauen, die beide ihr eigenes Päckchen zu tragen haben. Weiterhin hat Dad zwei treue Mitarbeiter, die ihn regelmäßig besuchen und mit den Neuigkeiten aus der Firma versorgen.

All diese Figuren sind miteinander vernetzt und werden unglaublich plastisch und wirklichkeitsnah beschrieben. Man entwickelt eine große Nähe zu ihnen, wie ich sie nur bei sehr wenigen Büchern empfunden habe. Im Städtchen Holt geht es zudem sehr familiär zu. Als Leser wird man sofort in dieses Flair hineingezogen. Kent Haruf hat eine einzigartige Art, seine Geschichte zu entwickeln, die Charaktere aufzubauen und in ihrer Vielschichtigkeit abzubilden, dass es eine Freude für das Leserherz ist: Völlig unpathetisch und frei von Kitsch.

Der Roman konzentriert sich auf einen Sterbeprozess, wie ich ihn noch niemals realistischer dargestellt gelesen habe. Haruf schildert die Malaisen des Alters, den zunehmenden Verfall des Körpers ohne Übertreibung oder Diskreditierung. Er malt aber dabei kein Bild der Trostlosigkeit, sondern beschreibt auch viele wunderschöne Momente, die seine Figuren in diesem Zusammenhang erleben dürfen. Ergänzt werden sie durch bildhafte Naturbeschreibungen, die die Handlung teilweise metaphorisch unterstreichen. Der Autor webt dadurch sehr viel Hoffnung und Lebenszuwendung in seine Geschichte ein. Alter, Sterben und Abschied gehören zum Leben – dieser Selbstverständlichkeit wird hier sehr einfühlsam Rechnung getragen, ohne Angst davor zu erzeugen.

Ich lese das Buch als einen Appell, sich dem Leben stets positiv zuzuwenden. Jedes Leben hat gute und schlechte Tage. Auf ihre Art sind sie alle kostbar. Trotz der traurigen Grundstimmung erwächst sehr viel Positives aus den einzelnen Episoden. Der Roman hat mich restlos überzeugt, er wird ein Jahreshighlight werden. Ein Herzensbuch! Unbedingt lesen!