Wertvolle Zeit

Voller Stern Voller Stern Voller Stern Voller Stern Voller Stern
aennie Avatar

Von

Nichts ist so relativ wie Zeit. Sie fliegt, sie kriecht und alles dazwischen. Man blickt auf die Uhr, und nur Minuten sind vergangen, obwohl man dachte, es sei viel mehr gewesen. Man blickt auf den Kalender und ein Jahr ist vergangen wie nichts. Endlos erscheinende Schulstunden - Zeit quält. Zeit in angenehmer Gesellschaft verbracht, vielleicht noch bei schönem Wetter, Zeit zum Genießen. Tage, die sich aneinanderreihen, gleich und eintönig, oder jeder birgt ein neues Abenteuer. Tage werden endlich, wenn jemand sagt, du hast nicht mehr viele, und dann wiegen sie schwerer als zuvor.

Kostbare Tage von Kent Haruf widmet sich diesem Thema. Schauplatz ist wiederum, wie in allen seinen Werken, die Kleinstadt Holt in Colorado. Eisenwarenhändler Dad Lewis bekommt die Endlichkeit seiner Tage durch eine medizinische Diagnose aufgezeigt und fortan begleitet der Leser ihn auf seinen Tagen, die von Erinnerungen, Begegnungen und irgendwann auch dem Fortschreiten der Erkrankung gekennzeichnet sind und geprägt werden von den Menschen um ihn herum. Seine Frau Mary, seine Tochter Lorraine, Sohn Frank. Sie werden zu einem Gesamtbild seiner Geschichte. Und wie in einer Kleinstadt üblich, spielt auch die Vernetzung mit hinein, seine Angestellten, die Nachbarschaft, die Kirchengemeinde. Alle erleben diese Tage mit ihm und doch ihre eigenen Tage, mal mehr oder mal weniger kostbar, der Autor lässt den Leser einfach beobachten und teilhaben.

Kent Haruf ist ein großartiger Erzähler. Er erzählt ganz viel Kleines, alltägliches: Gespräche, Begegnungen, und einfach nur das normale tagein-tagaus der Menschen, ihre Gefühle, ihre Erinnerungen, die kleinen Aufreger in der Kleinstadt. Wieder ergibt sich ein Gesamtbild eines Nebeneinanders und Miteinanders, das mich schon in „Lied der Weite“ sehr begeistert hat, hier empfinde ich es jedoch als noch berührender und persönlicher, vielleicht einfach, weil die Geschichte mehr Tragik aufweist. Er erfindet so stimmige Personen, die dem Leser wirklich nahe gehen und jede ihre Eigenheiten hat, egal ob Mary und Dad, Lorraine, die schrullig-liebenswerten Johnsons, Nachbarin Bertha May und Enkelin Alice oder der neue Pfarrer Rob Lyle.
Die ganze Erzählweise ist ganz nah an den Menschen und schließt den Leser sehr gekonnt mit ein. Das ruhige, entschleunigte Tempo ist eventuell für den ein oder anderen Leser gewöhnungsbedürftig, aber wenn man einmal erkennt, wie viel Philosophie im Alltag, wie viel Großes im Kleinen steckt, kann man eigentlich nur zum Schluss kommen, dass es äußerst schade ist, dass der Autor nur sechs Werke verfasst hat, denn er hat wirklich etwas zu vermitteln.

Fazit: absolute Leseempfehlung. Es war nicht mein erstes Buch des Autors und die erneute Begegnung mit ihm hat mich sehr gefreut, noch mehr freut mich, dass ich noch nicht alles von ihm gelesen habe sondern ihn auch zukünftig wieder nach Holt begleiten darf.