Aktuell, realitätsnah und fesselnd

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linus63 Avatar

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In Berlin ist ein Kampf um Wohnrecht entstanden. Alte Plattenbauten wurden aufgekauft und sollten entmietet werden, wozu dem Bauunternehmer Kröger offensichtlich jedes Mittel recht ist. Nachdem ein kleines Baby durch eine im Haus ausgesetzte, äußerst aggressive Ratte angegriffen und blutig gebissen wurde, ruft ihre Mutter ihre Freundin Olga und deren Lebensgefährten, den Ermittler und früheren Zielfahnder des BKA Georg Dengler, zu Hilfe, die daraufhin aus Stuttgart anreisen und in den Berliner Machtkampf eingreifen.

In „Kreuzberg Blues“ treffe ich meinen alten Bekannten Georg Dengler bereits in seinem zehnten Fall, sodass mir der Einstieg in das Buch sehr leicht fällt. Nicht nur aus den Büchern, auch aus den Verfilmungen haben die Protagonisten Olga und Georg bereits Gesicht und Charakter, für Neueinsteiger dürfte es etwas schwieriger werden, zumal auf die Beschreibung dieser beiden Figuren weitestgehend verzichtet wird.

Ohne großes Vorgeplänkel kommt der Autor Wolfgang Schorlau mit vielen Szenenwechseln und einer Menge Figuren direkt zum Thema - das Recht auf Wohnen, der Kampf um bezahlbaren Wohnraum, die Machenschaften von Immobilienhaien und der Kampf um die Einführung des Mietdeckels. In kurzen Sätzen, einer direkten, bildhaften und klaren Sprache und im Präsens bin ich als Leser nahe am Geschehen und tauche direkt in die Berliner Szene ab, in der mich die rigorose, strukturierte und organisierte Vorgehensweise, sowie die Skrupellosigkeit der Immobilienhaie gegenüber den Mietern fast erschrecken.

Nach dem actionreichen Einstieg wird es ruhiger. In vielen Rückblenden und parallelen Handlungssträngen erhalten die in diesem Band neuen Protagonisten ein Gesicht, aufgrund ihres ausführlich geschilderten Hintergrunds einen Charakter und werden mit gut recherchierten Nebenschauplätzen am Ende schlüssig in die Geschichte integriert. Obwohl ich diese akribischen Recherchen und überaus realitätsnahen Schilderungen wie z. B. die Domestizierung von Tieren oder auch die Manipulation gewisser Strömungen im Volk durch einflussreiche Personen an staatlichen Schlüsselstellen interessant finde und ähnliches bereits aus den bisherigen Bänden kenne, sind sie mir diesmal fast etwas zu ausführlich, da die Geschichte in der Gegenwart dabei nahezu zum Stillstand kommt. Ich war zwar nie in Versuchung, das Buch wegzulegen, doch der Lesefluss wird lange Zeit gebremst. Hält man durch, nimmt die Handlung wieder Fahrt auf und mündet nach einigen unerwarteten Wendungen in den ersten, gelungenen Showdown.

Unerwartet ist, dass die Handlung anschließend weiter geht und eigentlich in die Länge gezogen wird, auch wenn die Ereignisse logisch mit dem bisherigen Geschehen verknüpft werden. Dennoch wirkt es, als habe der Autor sie nachträglich hinzugefügt, um die Corona-Krise noch mit aufzunehmen, mitsamt den aktuellen, abstrusen Verschwörungstheorien, die ich mir - nebenbei bemerkt - bereits beim Friseur ungewollt anhören musste. Über Dengler bezieht der Autor ganz klar Stellung zur Stärkung rechtsorientierter Gruppierungen und Impfgegnern durch die aktuelle Corona-Politik und es drängt sich der Verdacht auf, als wolle er selbst den Leser durch seine Story beeinflussen. Getoppt wird das Ganze durch einen Cliffhanger auf der letzten Seite: die Corona-Krise ist noch nicht zu Ende und die Strömungen im Untergrund sind noch aktiv - es scheint, als wolle er im nächsten Band nahtlos anknüpfen.

Fazit:
Insgesamt habe ich hier einen sehr gut recherchierten, realitätsnahen, fesselnden und aktuellen Krimi mit interessanten und greifbaren Figuren, der in sich schlüssig ist und seinesgleichen sucht. Dennoch kann ich mich, obwohl ich bekennender Dengler-Fan bin und auch den nächsten Band sicher lesen werde, mit „Kreuzberg Blues“ nicht so anfreunden, wie mit den meisten Bänden bisher. Einiges wirkt konstruiert, manches in die Länge gezogen und mich stört mein Eindruck, dass ich in Bezug auf die Corona-Pandemie und die daraus resultierende, aktuelle Politik in eine bestimmte Richtung hin beeinflusst werden soll. So bleiben gute 4 Sterne und die Hoffnung auf einen baldigen weiteren Band, in dem Wolfgang Schorlau zu alter Stärke zurück findet.