Die Last der Vergangenheit

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bücherhexle Avatar

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Nach fünf Jahren Abwesenheit kommt der 19-jährige Ich-Erzähler Jirka wieder auf dem heimatlichen Hof an, mit dem es offensichtlich abwärts gegangen ist. Dort trifft er Leander, den Sohn des ehemaligen Verwalters, seine unter fortgeschrittener Demenz leidende Großmutter Agnes sowie seine ältere Schwester Malene wieder. Jirka ist zunächst erleichtert, dass sein Vater Georg nicht zu Hause weilt. Seine Mutter starb bereits, als Jirka noch ein Kind war.

Der Sommer ist heiß, die Böden ausgetrocknet. Diese Atmosphäre legt sich über den Hof und seine Bewohner. Auch sie gehen wortkarg und wenig (gast-)freundlich miteinander um. Es grenzt beinahe an eine Abwehrhaltung dieses Schweigen, dieses Dinge-nicht-beim-Namen-Nennen. Man spürt genau, dass etwas Bedrohliches in der Luft liegt, über das niemand spricht. Langsam tastet man sich durch Jirkas Perspektive an die Familie heran. Dabei wechselt sich die Gegenwart permanent mit der Vergangenheit ab. Man muss achtgeben, die Anschlüsse nicht zu verpassen. Doch wird auf diese Weise eine große Unmittelbarkeit erzeugt. Man spürt förmlich, wie plötzlich Jirka durch harmlose gegenwärtige Reize oder Beobachtungen von alten schmerzhaften Erinnerungen heimgesucht wird, die gnadenlos und mit großer Wucht an die Oberfläche drängen. Diese Rückblenden legen eine deprimierende Kindheit unter einem gewalttätigen, unberechenbaren Vater offen, der feste Erwartungen an seine Kinder hatte, denen sie nicht gerecht werden konnten. Malene und Jirka haben sich bis zu einem gewissen Grad gegenseitig gestützt, durch Jirkas Abreise ins Internat vor fünf Jahren ist jedoch ein Bruch entstanden, der sich nicht ohne weiteres überbrücken lässt. Während Jirkas Kindheit war auch der einige Jahre ältere Leander eine schützende, trostspendende Instanz. Heute steht er loyal Malene bei der Bewirtschaftung des Hofes zur Seite. Das Ausmaß und die Intensität dieser Verbindungen offenbaren sich erst nach und nach.

Aus der einst harten unbeugsamen Großmutter ist eine demenzkranke alte Frau geworden, die nur noch wenige lichte Momente erlebt. Es ist faszinierend, wie sensibel Linhof diese Erkrankung in zahlreichen, sehr realistischen Momentaufnahmen einfängt: „Aber im selben Moment sehe ich in ihren Augen, dass der Gedanke sich bereits verflüchtigt hat. Wie sich eine Wand aus Nebel in ihr Gedächtnis schiebt und sie nicht mehr weiß, worüber sie noch vor einer Sekunde nachgedacht hat.“ (S. 42) Es sind immer wieder Sätze wie diese, die den Leser innehalten lassen.

Ich bewundere die atmosphärisch dichte, poetisch-metaphorische Sprachgewandtheit der jungen Autorin. Die erzählte Geschichte geht unter die Haut. Gemeinsam mit Jirka durchlebt man erschütternde Szenen. Man spürt schnell, dass jede Figur auf ihre Weise Verletzungen und Traumata erlitten hat, überraschende Twists treiben die Handlung voran. Es geht darüber hinaus um Jirkas Erwachsenwerden, seine Identitätsfindung und sexuelle Orientierung – wie gesagt, das alles wird mit großer Empathie und Glaubwürdigkeit erzählt. (Der intensive, fesselnde Roman hätte die Ergänzung durch einen weiteren fast kriminalistischen Handlungsstrang meines Erachtens nicht gebraucht.)

Die Geschichte entfaltet sich behutsam in einer betörenden Dichte. Die Autorin begeistert durch ihre bewegenden, gefühlvollen Formulierungen. Schon mit wenigen Worten kann sie auch ambivalente Emotionen ihrer vielschichtigen Figuren beeindruckend auf den Punkt bringen. Mit großer Empathie beschreibt sie Jirkas Konfrontation mit dem Elternhaus. Der junge Mann möchte seine dunklen Geister so gern zum Schweigen bringen, doch so einfach geht das nicht. „Vielleicht ist es immer so, wenn man in die Heimat zurückgeht. Einen Teil bringt man mit, und einen Teil lässt man hinter sich. Einen Teil hat man für immer abgestreift, als man Jahre davor aufgebrochen ist, und einen anderen zieht man bereitwillig über, obwohl er unbequem geworden ist.“ (S. 10)

Große Leseempfehlung für alle Freunde psychologisch komplexer Beziehungsromane und all jene, die Freude an ausdrucksstarker, poetischer Sprache haben. Nach diesem fulminanten Debüt bin ich gespannt, wie sich die Autorin weiter entwickeln wird.