Bewegendes Historienepos mit herausragenden Charakteren

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christian1977 Avatar

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Paris, 1720. Marguérite muss sich entscheiden. 92 Frauennamen muss die Leiterin des Hospitals La Salpêtrière auf die Liste schreiben, die über das weitere Schicksal ihrer Schützlinge bestimmt. Hier, in diesem Sammelbecken von Waisenkindern, Gefangenen, psychisch Kranken und weiteren gesellschaftlichen Außenseiterinnen. 92 Frauen, "Freiwillige", die in Kürze eine mehrmonatige Reise über den Ozean antreten müssen. Ihr Ziel: die französische Kolonie La Louisiane, deren Fortbestand aufgrund fehlenden Nachwuchses ansonsten nicht gewährleistet wäre...

"La Louisiane" ist der neue Roman von Julia Malye, der in der Übersetzung aus dem Französischen von Sina de Malafosse beim neuen Gutkind Verlag erschienen ist. Malye, die ihren ersten Roman im Alter von 15 Jahren veröffentlichte, erscheint damit erstmals auf Deutsch. Für "La Louisiane", den sie auf Englisch und Französisch schrieb, recherchierte sie sage und schreibe zehn Jahre. Eine Arbeit, die dem Roman von vorn bis hinten anzumerken ist, denn "La Louisiane" ist ein mehr als 520 Seiten starkes Epos geworden, das nicht nur mit historischen Details glänzt, sondern auch mit einer plastisch-poetischen Sprache und herausragenden Frauenfiguren.

Und so verwundert es auch nicht, dass der französische Artikel "La" im Titel so präsent ist, denn "La Louisiane" zeichnet sich vor allem durch unbändige weibliche Energie aus. Im Mittelpunkt stehen die drei Protagonistinnen Geneviève, eine homosexuelle "Engelmacherin", die zu Beginn zwölfjährige Waisin Charlotte und die naive und durch ein Muttermal entstellte Pétronille. Über 14 Jahre begleiten die Leser:innen diese Hauptfiguren durch wenig Freud und viel Leid, und es ist erstaunlich, wie viel Tiefe Julia Malye ihnen schenkt. Die Ängste und Sorgen der Mädchen und Frauen müssen dabei gar nicht explizit ausgesprochen werden, es reichen Gesten und Andeutungen.

Sprachlich stark sind die Beschreibungen der Schauplätze und der Naturphänomene, die diese begleiten. Seien es die peitschenden Stürme auf der Überfahrt nach La Louisiane, seien es die Geräusche und Gerüche in der überdimensionierten Salpêtrière oder später die Sümpfe in La Louisiane - Julia Malye schreibt so plastisch, dass man als Leser:in eine unmittelbare Vorstellung der Settings erhält und diese fast zu riechen oder hören scheint. Hoch anzurechnen ist der Autorin zudem, dass sie mit "La Louisiane" eine fast vergessene Episode der französischen Geschichte zum Leben erweckt. Unglaublich scheint es aus heutiger Sicht, dass Frauen und Mädchen - überwiegend gegen ihren Willen - auf einen meilenweit entfernten Kontinent verschifft werden konnten, ohne zu wissen, was sie dort erwartet. Und natürlich ohne ein wirkliches Mitspracherecht in Bezug auf ihre auserwählten Bräutigame zu haben.

Tatsächlich ist "La Louisiane" weit mehr als ein gewöhnlicher "Historien-Schmöker". Wer dies erwartet, dürfte vielleicht enttäuscht sein. Dafür ist Malyes Sprache zu literarisch, das Erzähltempo zu langsam, dafür sind die Beschreibungen zu kleinteilig. Vielmehr verbindet der Roman viele Themen, die nicht an Aktualität verloren haben. Ob Heimat oder Sprache, ob queere Liebe oder Feminismus, ob Kolonialismus oder Rassismus - mit Sensibilität und sprachlicher Eleganz verknüpft Julia Malye all dies zu diesen mächtigen Epos, das "La Louisiane" letztlich geworden ist.

Am Ende unbedingt hervorzuheben ist noch das zehnte Kapitel, das in dem Roman eine bemerkenswerte Sonderstellung einnimmt. Es ist nach dem Auftaktkapitel das einzige, das nicht aus der Perspektive einer der drei Hauptfiguren erzählt wird, sondern aus Sicht der indigenen Jugendlichen Utu'wv Ecoko'nesel. Das Mädchen soll Pétronille Kenntnisse über die heilenden Kräfte der Pflanzen vermitteln und gerät dabei in mehrere Konflikte, denen Julia Malye mit herausragender Empathie begegnet. Das Kapitel ist sowohl auf der Spannungsskala als auch in Sachen Emotionalität der unbestrittene Höhepunkt eines insgesamt begeisternden Historischen Romans.