Beeindruckender Schreibstil, mystische Atmosphäre

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lolo23 Avatar

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In „Lázár“ wird das Schicksal einer ungarischen Adelsfamilie über drei Generationen hinweg erzählt, eingebettet in die politischen Umwälzungen des 20. Jahrhunderts. Dreh- und Angelpunkt dieser Familienerzählung ist das Waldschloss, der Hauptwohnsitz der Familie von Lázár, dessen Atmosphäre so mystisch, bedrückend und zugleich schön beschrieben wird, dass es ein gutes Sinnbild für diese Familiengeschichte darstellt. Die Handlung hangelt sich vor allem an drei Figuren entlang: Großvater Sándor, Vater Lajos und Enkel Pista. Biedermann gelingt es, ihre individuellen Schicksale mit großer Detailfreude zu schildern, oft auch in scheinbaren Nebensächlichkeiten. Gerade darin liegt eine der Stärken des Romans. Aus den Fragmenten persönlicher Erlebnisse und trotz vieler Auslassungen entsteht ein übergreifendes Erzählmuster, das Parallelen zwischen den Generationen sichtbar macht. Anfangs tritt dabei die politische und historische Ebene etwas in den Hintergrund, doch gegen Ende des Buches zur Zeit des 2. Weltkriegs tritt das weltgeschichtliche Geschehen stärker hervor und wird mit den individuellen Schicksalen verknüpft. So findet das Buch zu einem stimmigen Abschluss.
„Lázár“, Biedermanns erster großer Roman, wie es bei der Premierenlesung hieß, ist ein beeindruckendes Werk, vor allem wenn man das junge Alter (Jg.: 2003) des Autors in Betracht zieht. Dass dieses so oft betont wird, liegt an der Reife im Ton, der Themenwahl und dem Stil. Vor allem der Schreibstil wird zurecht gelobt. Dieser hat mich dazu gebracht, dieses Buch zu lesen, und auch im Laufe dessen nicht enttäuscht. Nelio Biedermann gab in mehreren Interviews sowie bei der Premierenlesung an, dass er den Kanon sehr intensiv studiert habe und beispielsweise Joseph Roth ein großes Vorbild sei. Sein Stil wirkt wie eine moderne, eigene Interpretation solcher Einflüsse und macht wirklich Spaß zu lesen.
Allerdings blieb für mich der Eindruck zurück, dass sich der junge Autor an anderer Stelle eventuell zu sehr vom Kanon leiten ließ. So hätte ich mir eine größere Präsenz und Tiefe weiblicher Figuren gewünscht. In der letzten erzählten Generation versucht Biedermann dies mit der Figur Eva, der Schwester von Pista. Doch ihre Darstellung wirkte auf mich wenig authentisch. So wird beispielsweise in wenigen Sätzen abgehandelt, wie sie, nachdem ihr das Studium verwehrt blieb, sich durch Virginia Woolf und Simone de Beauvoir bildet und ein neues Bewusstsein entwickelt. Diese Entwicklung erscheint mir zu schematisch und oberflächlich.
Das Buch greift große Themen auf wie Trauer, Suizid, Eltern-Kind-Beziehungen, Schuld und Verrat. Dennoch bleibt die Auseinandersetzung mit diesen Themen oft an der Oberfläche. Ich hätte mir mehr psychologische Tiefe gewünscht. Was von den Figuren am stärksten im Gedächtnis bleibt, ist neben ihrer allgemeinen Orientierungslosigkeit in der Welt vor allem ihr jeweiliges sexuelles Verlangen, welches vergleichsweise detailliert beschrieben wird. Dabei wirkt die scheinbare Nebensächlichkeit der weiblichen Figuren in diesen Szenen auf mich teilweise veraltet.
Durch die beschriebenen Schwächen konnte „Lázár“ meiner Meinung nach nicht seine volle erzählerische Kraft entfalten, Handlung oder Figuren hinterlassen bei mir keinen bleibenden Eindruck. Der Schreibstil und die atmosphärisch dichte Erzählung stellten allerdings einen großen Genuss während des Lesens dar. Ich bin gespannt, was Nelio Biedermann in Zukunft schreiben wird.