Believe the Hype!
Ungarn, zu Beginn des 20. Jahrhunderts: Baron Sándor von Lázár traut seinen Augen nicht. Dieser hellblonde Junge mit den seltsamen blauen Augen und der durchsichtigen Haut soll sein Sohn sein? Ganz geheuer ist ihm der kleine Lajos jedenfalls nicht. Lieber setzt er ihn zunächst einmal an den Esstisch zu seinem minderbemittelten Bruder Imre. So gehen die Jahre im Waldschloss der adeligen Familie dahin. Lajos wächst im Schatten des ungeliebten Vaters zu einem jungen Mann heran und zieht ins Internat. Irgendwann ist das Kaiserreich Geschichte und der Krieg steht vor der Tür. Und es dauert nicht mehr lange, bis Lajos selbst Verantwortung übernehmen muss. Für das Waldschloss und für die Geschicke der Familie von Lázár...
"Lázár" ist der neue Roman von Nelio Biedermann, der bei Rowohlt Berlin erschienen ist. Es ist sein zweiter Roman nach "Anton will bleiben", der 2023 im Schweizer Arisverlag seine Premiere feierte.
Nun ist es ja immer eine solche Sache mit den Vorschusslorbeeren. Was ist es wert, dass Daniel Kehlmann auf der Rückseites des Buches schreibt, dessen Erscheinen wäre ein "Donnerschlag"? Die "Süddeutsche Zeitung" fragt sich, ob es sich bei dem gerade einmal 22-jährigen Nelio Biedermann um den neuen Thomas Mann handele. Und in der "Zeit" übertitelt mit Adam Soboczynski immerhin einer der angesehensten Literaturkritiker das Porträt des jungen Schweizers mit "Der neue Zauberer". Noch dazu erscheint das Buch in mehr als 20 Ländern und 18 Sprachen. Don't believe the Hype - oder?
Nach der Lektüre stellt man fest: Alles ist wahr! "Lázár" ist schlichtweg fantastisch geworden. Man reibt sich die Augen und fragt sich, ob Sätze wie "Sie sehnte sich nach dem Meer und fürchtete den herannahenden Winter, der wie ein wilder Reiter mit eisiger Klinge aus dem Nordosten auf sie zupreschte" wirklich aus der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur stammen. Oder auch: "Die Jahre kamen und gingen, zogen wie die Roma mit ihren Pferden und Zirkuswagen durch das Habsburgerreich, durch die im Donausumpf versinkende Monarchie." Was wie ein Klassiker anmutet, ist in Wahrheit ein 22-jähriger Schweizer, der mit seiner Sprache völlig aus der Zeit gefallen scheint.
Auf 330 Seiten erzählt Biedermann mit großer Geste und sprachlichem Überschwang von mehr als 50 Jahren des 20. Jahrhunderts, von zwei Weltkriegen, dem Verfall der Monarchie und dem Niedergang einer Familie, die ein bisschen auch seine eigene ist. Schließlich stammen der Autor und seine Familie selbst aus dem ungarischen Adel.
Gerade zu Beginn erinnern Sprache und Motive an ein düsteres Märchen, wie wir es zuletzt vielleicht am ehesten bei Stefanie vor Schultes "Junge mit schwarzem Hahn" kennenlernen durften: das Schloss, der Wald, der noch dazu offenbar von einem seltsamen Waldvolk bewohnt wird, dem ein ganz besonderer an den "Erlkönig" erinnernder Auftritt gelingt. Mit zunehmender Dauer kommen zahlreiche literarische Verweise hinzu. Lajos' verrückt-kluger Onkel Imre erhält nächtlichen Besuch von einem Mann, der ihm ein Buch von E. T. A. Hoffmann aufs Bett legt. In einem Zug treffen die Hauptfiguren Carl Zuckmayer. Der "Tod in Venedig" ist genauso präsent wie Marcel Proust und Virginia Woolf. Und erinnert die Szene, in der Sándor seine Geliebte durch die Stadt verfolgt nicht ein wenig an Knut Hamsuns "Hunger"? Das Besondere ist, dass Nelio Biedermann aus all diesen Verweisen etwas so Originäres und Originelles schafft, dass man nicht einmal auf die Idee kommt, hier wolle jemand seinen Idolen nacheifern.
Doch, Vorsicht: Wer sich von der Schönheit der Sprache zu sehr einlullen lässt, stolpert womöglich etwas unvermittelt über die ein oder andere Vulgarität. In den adeligen Betten geht es manchmal bis zur Ekelgrenze zur Sache. Eine Figur kotzt der Leserin auch mal vor die Füße. Vielleicht trifft man auch auf Charaktere, denen man lieber nicht begegnet wäre. Dem sich einnässenden Stalin beispielsweise. Oder Caspar, Balthasar und Melker, einer pervertierten Art der Heiligen Drei Könige.
Hervorzuheben ist unbedingt auch noch die formale Besonderheit des Romans. Biedermann bricht schon mal mit der klassischen Erzählstruktur und platziert recht unvermittelt ein Gedicht mitten im Kapitel. Oder er lässt auf knapp zwei Seiten einen einzigen Satz dahinwabern, um eine der wichtigsten Figuren in den Tod zu begleiten. Die Chronologie der Ereignisse hält er auch nicht immer ein. Nicht zu vergessen die Ausflüge auf die Metaebene, bei denen der Schrifsteller schon einmal angeklagt wird, die Privatsphäre seiner Figuren zu missachten und für diese Schicksal zu spielen.
All das fügt sich so wundervoll und ideenreich zusammen, dass man nicht umhinkommt, "Lázár" als Meisterwerk zu bezeichnen. Am Ende stellt sich eigentlich nur noch die Frage, warum dem Roman kein Stammbaum hinzugefügt wurde, um die recht komplexen Familienstrukturen auch mal bildlich vor Augen zu haben. Und warum das Buch nicht auf der Longlist des Deutschen Buchpreises steht. Ganz ehrlich. Believe the Hype!
"Lázár" ist der neue Roman von Nelio Biedermann, der bei Rowohlt Berlin erschienen ist. Es ist sein zweiter Roman nach "Anton will bleiben", der 2023 im Schweizer Arisverlag seine Premiere feierte.
Nun ist es ja immer eine solche Sache mit den Vorschusslorbeeren. Was ist es wert, dass Daniel Kehlmann auf der Rückseites des Buches schreibt, dessen Erscheinen wäre ein "Donnerschlag"? Die "Süddeutsche Zeitung" fragt sich, ob es sich bei dem gerade einmal 22-jährigen Nelio Biedermann um den neuen Thomas Mann handele. Und in der "Zeit" übertitelt mit Adam Soboczynski immerhin einer der angesehensten Literaturkritiker das Porträt des jungen Schweizers mit "Der neue Zauberer". Noch dazu erscheint das Buch in mehr als 20 Ländern und 18 Sprachen. Don't believe the Hype - oder?
Nach der Lektüre stellt man fest: Alles ist wahr! "Lázár" ist schlichtweg fantastisch geworden. Man reibt sich die Augen und fragt sich, ob Sätze wie "Sie sehnte sich nach dem Meer und fürchtete den herannahenden Winter, der wie ein wilder Reiter mit eisiger Klinge aus dem Nordosten auf sie zupreschte" wirklich aus der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur stammen. Oder auch: "Die Jahre kamen und gingen, zogen wie die Roma mit ihren Pferden und Zirkuswagen durch das Habsburgerreich, durch die im Donausumpf versinkende Monarchie." Was wie ein Klassiker anmutet, ist in Wahrheit ein 22-jähriger Schweizer, der mit seiner Sprache völlig aus der Zeit gefallen scheint.
Auf 330 Seiten erzählt Biedermann mit großer Geste und sprachlichem Überschwang von mehr als 50 Jahren des 20. Jahrhunderts, von zwei Weltkriegen, dem Verfall der Monarchie und dem Niedergang einer Familie, die ein bisschen auch seine eigene ist. Schließlich stammen der Autor und seine Familie selbst aus dem ungarischen Adel.
Gerade zu Beginn erinnern Sprache und Motive an ein düsteres Märchen, wie wir es zuletzt vielleicht am ehesten bei Stefanie vor Schultes "Junge mit schwarzem Hahn" kennenlernen durften: das Schloss, der Wald, der noch dazu offenbar von einem seltsamen Waldvolk bewohnt wird, dem ein ganz besonderer an den "Erlkönig" erinnernder Auftritt gelingt. Mit zunehmender Dauer kommen zahlreiche literarische Verweise hinzu. Lajos' verrückt-kluger Onkel Imre erhält nächtlichen Besuch von einem Mann, der ihm ein Buch von E. T. A. Hoffmann aufs Bett legt. In einem Zug treffen die Hauptfiguren Carl Zuckmayer. Der "Tod in Venedig" ist genauso präsent wie Marcel Proust und Virginia Woolf. Und erinnert die Szene, in der Sándor seine Geliebte durch die Stadt verfolgt nicht ein wenig an Knut Hamsuns "Hunger"? Das Besondere ist, dass Nelio Biedermann aus all diesen Verweisen etwas so Originäres und Originelles schafft, dass man nicht einmal auf die Idee kommt, hier wolle jemand seinen Idolen nacheifern.
Doch, Vorsicht: Wer sich von der Schönheit der Sprache zu sehr einlullen lässt, stolpert womöglich etwas unvermittelt über die ein oder andere Vulgarität. In den adeligen Betten geht es manchmal bis zur Ekelgrenze zur Sache. Eine Figur kotzt der Leserin auch mal vor die Füße. Vielleicht trifft man auch auf Charaktere, denen man lieber nicht begegnet wäre. Dem sich einnässenden Stalin beispielsweise. Oder Caspar, Balthasar und Melker, einer pervertierten Art der Heiligen Drei Könige.
Hervorzuheben ist unbedingt auch noch die formale Besonderheit des Romans. Biedermann bricht schon mal mit der klassischen Erzählstruktur und platziert recht unvermittelt ein Gedicht mitten im Kapitel. Oder er lässt auf knapp zwei Seiten einen einzigen Satz dahinwabern, um eine der wichtigsten Figuren in den Tod zu begleiten. Die Chronologie der Ereignisse hält er auch nicht immer ein. Nicht zu vergessen die Ausflüge auf die Metaebene, bei denen der Schrifsteller schon einmal angeklagt wird, die Privatsphäre seiner Figuren zu missachten und für diese Schicksal zu spielen.
All das fügt sich so wundervoll und ideenreich zusammen, dass man nicht umhinkommt, "Lázár" als Meisterwerk zu bezeichnen. Am Ende stellt sich eigentlich nur noch die Frage, warum dem Roman kein Stammbaum hinzugefügt wurde, um die recht komplexen Familienstrukturen auch mal bildlich vor Augen zu haben. Und warum das Buch nicht auf der Longlist des Deutschen Buchpreises steht. Ganz ehrlich. Believe the Hype!