Eine Adelsfamilie im Mahlström der europäischen Geschichte, opulent erzählt

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annajo Avatar

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In einem Waldschloss auf dem südungarischen Land lebt die Adelsfamilie von Lázár. Als nach der Tochter endlich der ersehnte Sohn und Erbe geboren wird, ist dieses bleiche, fast durchsichtige Kind nicht das, was sich Lajos Lázár vorgestellt hat. Und so beginnt die Geschichte einer Adelsfamilie mitten in den großen Umbrüchen des 20. Jahrhunderts. Vor der Tapestrie der ungarischen Geschichte - zunächst noch als habsburgische Monarchie, dann unter der deutschen und zuletzt der russischem Besatzung - spielen sich die kleinen und großen Dramen einer Familie ab, die schon durch die Vorfahren geprägt ist von Alkoholismus, Suizid und Wahnsinn.

Dem Autor ist hier mit diesem, für eine Familiengeschichte vergleichsweise kleinen Buch etwas Großes gelungen. Die Sprache ist über weite Strecken ein Genuss, Ein trockener Humor verbindet sich mit opulenten Bildern und sprachlichen Schleifen. Teilweise mutet die Geschichte märchenhaft an. Als die Tochter Ilona einmal im Wald verloren geht, dachte ich beim Lesen wirklich, sie käme als "Wechselbalg" zurück (dieser folkloristische Glaube daran, dass Feen oder andere übernatürliche Wesen Menschenkinder durch ihre eigenen Nachkommen ersetzen). Doch die Geschichte bleibt realistisch, auch wenn am Rande des Blickfelds im Wald immer irgendetwas zu lauern droht. Der Erzählstil ist äußerst atmosphärisch und baut vor allem eine düstere Stimmung auf, die die historischen Entwicklungen fast schon vorweg nimmt. Die Geschichte fesselt, doch immer, wenn man etwas Sympathie oder Mitgefühl aufgebaut hat, zeigt sich die Familie wieder von ihrer egoistischen und opportunistischen Seite. Über drei Generationen hinweg beobachtet man, was die Familie tut, um ihren Adelsstand zu erhalten. Man ist nah dran, wenn sie ihre verschiedenen Residenzen bereisen und dort die Sommermonate vorüberziehen lassen, aber auch, wenn sie schließlich enteignet auf engstem Raum lebend zum ersten Mal arbeiten müssen. Die Geschichte der Familie ist eindrucksvoll erzählt , opulent und gleichzeitig komprimiert (das muss man erstmal hinbekommen) und die Wendungen der Geschichte sind nachvollziehbar und nachfühlbar dargestellt. Doch manches Mal macht der Erzählstil einen Schlenker zu viel, überschlägt sich und fühlt sich überladen an. Gleichzeitig bleiben die Figuren etwas holzschnittartig und wie Abziehbilder ihrer Vorgänger. Bis auf den "verrückten Onkel Imre" (schon ein ziemliches Klischee) heben sich die Figuren wenig voneinander ab, sodass die Generationen kaum auseinander zu halten sind. Und auch wenn ich den Erzählstil meist sehr genossen habe, gab es doch einige drastische Szenen, die mir nicht gefallen haben und die sich als Bruch anfühlten. Insbesondere die verschiedenen Sexszenen hätten weniger explizit sein können. Im Kontext dieser, auf ihr Erscheinen bedachten Adelsfamilie wirkten die Szenen fast schon obszön.

Alles in allem ist "Lázár" ein beeindruckendes Buch und ich werde sicherlich zu weiteren Büchern des Autors greifen. Ich werde nicht in die Überraschung einstimmen, wie ein so junger Autor so ein Buch schreiben konnte, denn warum sollte er nicht? Warum glauben wir (immer noch), dass nur ältere Menschen beeindruckende Werke hervorbringen? Mich hat das Buch unabhängig vom Autor gepackt und auch unabhängig von der Tatsache, dass diese Geschichte wohl auf einer realen Geschichte basiert. Sie war auch ohne dieses Wissen glaubwürdig, realistisch und lebensnah. Ich kann die Begeisterung verstehen, die dieses Buch bei vielen ausgelöst hat. Mir ging es, bis auf ein paar Kritikpunkte, ähnlich.