Spannend und toll konstruiert

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Lázár von Nelio Biedermann, das auf den ersten Blick wie eine Familiensaga daherkommt, ist so unheimlich vielschichtig, dass ich nach der Lektüre lange gebraucht habe, um meine Gedanken zu sortieren (und vielleicht auch immer noch dabei bin).

Zum einen geht es natürlich schon um die Geschichte der Familie Lázár, um die Einzelschicksale, um die Bedeutung von Familie, um die Unterschiede zwischen den Generationen und gleichzeitig die Bewahrung von Tradition. Besonders die Männerfiguren sind dabei sehr tragisch angelegt und müssen sich der Frage nach Schuld und Verantwortung stellen.

Eine zweite Ebene ist die historische Entwicklung der KuK-Monarchie und der Geschehnisse rund um die beiden Weltkriege. Die Auswirkungen werden hauptsächlich am Beispiel der Baronenfamilie gezeigt, was ich sehr gelungen finde, da es für mich die Problematik der Verhältnismäßigkeit oder Vergleichbarkeit von Leid aufzeigt. Immer wieder habe ich großes Mitleid mit der Familie empfunden, obwohl mir gleichzeitig deren Privilegien und Fehlverhalten durchaus bewusst waren. Spannend!

Und dann gibt es noch eine symbolische Ebene, die sich vor allem aus religiösen und teils auch literarischen Referenzen speist. Ich bin mir sicher, dass ich hier nicht alle Verweise bemerkt bzw. verstanden habe, aber ein paar, wie zum Beispiel das Gleichnis von Lazarus oder die Anspielung auf Prousts Suche nach der verlorenen Zeit, sind dann doch offensichtlich genug.
Was mich an diesem Buch am meisten begeistert hat, ist die Sprache, mit der Nelio Biedermann vielleicht sogar noch eine vierte Ebene schafft. Sie ist bildgewaltig, ohne dabei so lyrisch zu sein, dass sie gekünstelt oder kitschig wirkt. Sie ist aber stellenweise auch kompliziert, nutzt Schachtelsätze und komplexe Konstruktionen, und durchbricht damit auch immer wieder die Illusion der Nostalgie.

Insgesamt ist es ein Buch, das mich in seinen Bann gezogen hat und auch nach der Lektüre noch stark nachwirkt. So viele Themen werden hier gekonnt miteinander verbunden und ich hätte gerne mehr geschrieben, zu den Schicksalen der jüdischen Bevölkerung, der Frauen, der Intellektuellen, oder auch einfach zu den einzelnen Figuren.

Am Ende bleiben leider ein paar Fragen offen, auf deren Auflösung ich hingefiebert habe und dann etwas enttäuscht war, als ich keine Antworten bekam. Selbst nach diversen Recherchen und viel Nachdenken bleibt es mir ein Rätsel, was in der Ruine passiert ist. Auch zu Imre oder den Schatten hätte ich mir mehr gewünscht. Dennoch ein starkes Buch, das ich absolut empfehle!
4,5/5